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Woker Antisemitismus aus einer jüdischen Perspektive - Mit David L. Bernstein

matt studer

Aktualisiert: 17. Jan.



Fuck Germany, fuck Israel.

(Greta Thunberg, an einer Veranstaltung in Mannheim, Dez. 2024)


Wir glauben fest an eine Transformation der Hamas in ein genderqueeres Kollektiv nach der erfolgreichen Dekolonialisierung.

(Koi (hen/they), queerpolitische*r Sprecher*in in der Initiative Dahlemer Call for Peace in Palestine)



Es wirkt auf den ersten Blick fast absurd, dass die Klimabewegung sich für ein "freies" Palästina lautstark macht. Was haben CO2 und der Nahostkonflikt gemeinsam? Wieso übernimmt die Gallionsfigur der Bewegung, Greta Thunberg neben "Fuck the Rich" nun auch "Fuck Israel" in ihr Repertoire? Warum stimmen Studenten in der westlichen Welt in diesen antisemitischen Chorus ein? "Free Palestine!" lautet der Ruf und die Vision, die sich viele junge Menschen auf die Fahne schreiben. Es geht ihnen um die Verwirklichung von Gerechtigkeit, auch für die Palästinenser. Aber dazu muss Israel erst mal weg, oder?


Was will ich mit diesem Beitrag erreichen? Sicher nicht den Nahostkonflikt lösen, wie es die Studenten rund um das Symposium Dahlemer Call for Peace in Palestine vermeintlich geschafft haben. Die Sachlage ist zu verzwickt, zu kompliziert, zu verschachtelt - plus bin ich kein Experte hier. Mich interessieren die Zusammenhänge, eben wie Palästina mit Fridays for Future zusammengehen kann, oder wieso sich die LGBTQ+-Bewegung so beherzt für den Nahen Osten interessiert. Und was gibt es Besseres, als dazu ein Buch von einem Juden zu studieren, der sich selbst als liberal (in einem herkömmlichen Sinn - wir werden darauf zurückkommen) bezeichnet? Also einer, der sich Zeit seines Lebens für die liberalen Werte der Toleranz und Gleichheit für alle Menschen, in andere Worten für soziale Gerechtigkeit, wie die progressiven Linken sie heute fordern, eingesetzt hat. Der Autor, David L. Bernstein nimmt uns auf seine biografische Reise mit und berichtet, wie selbst jüdische Mitstreiter die woke-ideologische Agenda übernommen haben, die mit einem tiefliegenden Antisemitismus im Gepäck daherkommt. Der Untertitel seines Buches Woke Antisemitism heisst daher treffend How a Progressive Ideology Harms Jews (wie eine progressive Ideologie den Juden schadet).


Um es ganz salopp in einem Satz zu sagen: die Juden haben keine einfache Geschichte hinter sich (und wahrscheinlich auch vor sich). Antisemitismus ist keine Neuerscheinung, sondern eine altbekannte Realität. Und täglich grüsst das Murmeltier. Denn die Juden wurden über die Jahrhunderte wiederholt ausgegrenzt, verfolgt und vernichtet. David Bernstein ist sich dessen wohl bewusst. Dennoch gab er die Hoffnung nie auf, dass sich gerade in Amerika was machen liesse. (Nebenbemerkung: Von unserem Lehnstuhl in West-Europa haben wir den Eindruck, dass die jüdische Community in Amerika seit jeher recht stark und stabil aufgestellt ist (z. B. die Israel-Lobby). Dabei sind wir uns nicht bewusst, dass auch die Juden in Amerika häufig keine einfache Stellung inne hatten und, wenn auch nicht verfolgt, so doch mit Misstrauen und Missgunst zu kämpfen hatten).


David Bernstein bezeichnet sich in zweifacher Hinsicht als Kind des Liberalismus:

Ich bin im doppelten Sinne des Wortes als Liberaler aufgewachsen: Ich glaubte an die freie Meinungsäußerung von Ideen und bürgerlichen Freiheiten, wie es der klassische Liberale tut, und ich unterstützte Anliegen wie Abtreibungsrechte und staatliche Hilfe für die Armen, wie es der politische Liberale tut. (S. 21, übersetzt von Google)

Bernstein setzte sich vor allem auf politischem Terrain für die jüdische Community in Amerika ein. Er war davon überzeugt, dass ein liberaler Staat wie Amerika einen guten Nährboden bietet, um die liberalen Werte der Gleichheit und Toleranz auch für Gruppen von Minderheiten, wie die Juden es sind, zu verwirklichen. Umso mehr wurde er von einer neue Ideologie überrascht, die sich auf dem politischen amerikanischen Parkett einen wachsenden Einfluss zu verschaffen begann.


Eine kurze, schlaglichtartige geschichtliche Einordnung des Phänomens

Der erste Punkt, den man hier erwähnen sollte, ist das Aufkommen von sogenannt post-kolonialistischen Studien an den Universitäten. In diesen Studien möchte man nochmals einen neuen, faireren Blick auf die Geschichte werfen. Denn im Allgemeinen wurden die Geschichtsbücher ja nicht von denen verfasst, die kolonialisiert wurden, sondern aus der Perspektive der Kolonialmächte, die das neue Territorium einnahmen. Wenn wir über die Entdeckung Amerikas lesen, dann aus der Perspektive des Columbus, der Amerika 'entdeckte', obwohl Amerika für die Ureinwohner doch schon immer da gewesen war (aus der Perspektive der Ureinwohner wurde Amerika nicht entdeckt, sondern erobert). Die post-kolonialistische Perspektive möchte diesen einseitigen Blick korrigieren und die Geschichte nochmals neu erzählen. Und da hat sie bestimmt nicht ganz Unrecht damit. Doch gerade ihre neue Perspektive führt - vor allem wenn sie als die einzig valide unter allen Perspektiven gelten soll - wieder zu einem verengten Blick. Wie genau? Bernstein bemerkt:

Durch die vereinfachte Aufteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte hält der Postkolonialismus erfolgreiche Nationen für moralisch schuldig und kämpfende Nationen für moralisch rein. (S. 43)

Diese Binarität führt dazu, dass die Juden in Israel kategorisch als böse Besetzermacht bezeichnet werden, wogegen die Palästinenser die wahrhaft Unterdrückten sind, die befreit werden müssen. Ich will nicht sagen, dass da nichts dran ist (vor allem wenn man die expansive Siedlungs-Politik der Israeli genauer in den Blick nimmt). Ich will sagen, dass eine solche Anschauungsart ihrerseits wieder zu simpel, zu schwarz-weiss ist und der komplexen Situation im nahen Osten nicht gerecht wird.


Wir haben hier nicht die Zeit und den Platz, alle Verbindungen der Fäden, die sich in den letzten Jahrzehnten spannen, zu verfolgen. Viele der neueren Studien an Universitäten sind in dem Sinne miteinander connected, indem sie mit dieser Binarität von Opfer und Täter arbeiten, sei es im Bereich von Rassismus (weiss vs. farbig), der Sexualität (hetero vs. queer), usw. (für eine genauere Analyse dieses Phänomens siehe meine Beiträge hier und hier). Manchmal werden solche Studien unter dem Label diversity zusammengefasst - Bernstein bespricht diese Studien in Kapitel vier. Er beschreibt, wie sich diese neueren Diversitätsstudien in Bezug auf die Haltung der Juden gegenüber auswirkten:

Progressive Ideologen glauben, dass nur Menschen mit Macht Rassisten sein können ... Die Formel dieses Paradigmas lautet "Rassismus = Bigotterie plus Macht", was bedeutet, dass man kein Rassist sein kann, wenn man keine Macht hat [weniger privilegiert ist], und wenn man Macht hat, kann man kein Opfer sein. (S. 55)

Er fährt fort:

Im Laufe der Zeit sind die Progressiven dazu übergegangen, die Juden als privilegierte Gruppe und Teil des amerikanischen Machtestablishments zu betrachten, was den jüdischen Behauptungen, dass auch sie einem Rassismus ausgesetzt sind, wenig Glaubwürdigkeit verleiht. Wenn also Juden Arabern, Muslimen oder Afroamerikanern Rassismus vorwerfen, neigen Progressive dazu, zu schweigen, denn ihrer Ansicht nach können Juden keine Opfer sein und „machtlose“ Minderheitengruppen können sich keines Rassismus schuldig machen.

Könnte es sein, dass bei uns eine ähnliche Dynamik am Werk ist, wenn über die Angriffe auf Juden in Deutschland und anderorts so wenig kritische Worte verloren werden?


In Amerika war es die Black Lives Matter Bewegung, die Öl ins Feuer goss und die dieser Dynamik gewaltigen Schub verlieh. So berichtet Bernstein von einem Meeting der Black Jewish Community, an dem er teilnahm:

Zum ersten Mal hörte ich, dass schwarze Juden sagten, weiße Juden hätten von der Vorherrschaft der Weißen profitiert und müssten „ihr Weißsein“ ablegen, die kulturelle Identität, die den Weißen Privilegien verschaffte, und ihre Nähe zur weißen Machtstruktur ... Das war nicht die Bürgerrechtsbewegung deines Vaters oder deiner Mutter - und es gab keinen Dialog ... Wir waren lediglich dort, um zu erfahren, dass wir an der Unterdrückung von Schwarzen (und schwarzen Juden) beteiligt waren und dass wir an uns selbst und in der Gesellschaft viel „Arbeit zu erledigen“ hatten. (S. 66)

Auch hier gilt: Die Black Lives Matter Bewegung hat nicht Unrecht, wenn sie Amerika für den nach wie vor offensichtlichen wie latenten Rassismus kritisiert, selbst wenn die Annahmen dahinter meiner Meinung nach weit am Ziel vorbeischiessen. (Wem solche Ausdrücke wie White Supremacy noch nicht geläufig sind, der gewinne vielleicht durch diesen Artikel mehr Klarheit). Offenbar wird, dass viele dieser Ansätze von Diversity (so auch die Critical Race Theory, die Black Lives Matter ideologisch untermauert) die genannte Binarität zwischen Opfer und Täter, zwischen Unterdrückten und Unterdrücker stark ins Zentrum rücken und als eigentlich einzig valide Linse ansehen. Auf solchem Hintergrund wird klar, warum an einem Black Lives Matter Marsch in Ferguson plötzlich auch für Palästina solidarisiert wird (mit Schildern mit der Aufschrift "From Ferguson to Palestine"). Bernstein berichtet aus seiner Warte:

Tweets von palästinensischen Aktivisten, in denen es heißt: „Es sind immer die Unterdrückten, die auf der Seite der Unterdrückten stehen“, wurden Hunderttausende Male weiter getweetet. Ein von BLM-Aktivisten produziertes Video, in dem die Sache des schwarzen Lebens mit der palästinensischen Sache verglichen wurde, ging viral. (S. 61)

Für viele schien es sich herauszukristallisieren, dass man hier endlich gemeinsam und global gegen soziale Ungerechtigkeit vorgehen muss - in anderen Worten, dass man die Klasse der Täter oder Unterdrücker (wozu Israel gemäss dieser Definition eben gehört) endlich zur Kasse bitten soll. Es reicht nicht, dass die Juden eine Minderheit sind. Sie gehören zur privilegierten Klasse der Weissen und sind damit als 'Opfer' disqualifiziert (respektive als 'Täter' qualifiziert).


So kann man auch den Aktivismus der Klimabewegung klarer einordnen: Es geht ihnen um soziale Gerechtigkeit, nicht nur was das Klima betrifft, sonder allgemein. Denn für sie hängt all dies zusammen: Eine gerechtere Verteilung von Ressourcen (in Bezug auf den Gazakonflikt die Ressource "Land") führt am Ende zu einem besseren und gesünderen Umgang mit den Ressourcen dieser Welt. Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit sind laut diesem Denken eng miteinander verwoben.


Wie die Juden auf diesen Zug aufsprangen

Es mutet doch schon fast paradox an, dass selbst viele Juden in Amerika begannen, sich dieser Sache zu verschreiben. Würden sie sich damit nicht den Ast absägen, auf dem sie gerade sassen? Bernstein beschreibt den Vorfall, wie ein besorgter Jude diese Email an jüdische Aktivisten schreibt:

Was heißt es, wenn keiner von Ihnen in der Lage ist, mir dokumentierte Aussagen von BLM-Aktivisten gegen Antisemitismus oder BDS [Boykott, Desinvestition und Sanktionen gegen Israel?] zu schicken? ... Ich unterstütze das Engagement der jüdischen Gemeinschaft für die aktuelle bürgerrechtliche Herausforderung unserer Zeit voll und ganz. Gleichzeitig können wir den Antisemitismus nicht weiterhin unter den Teppich kehren und sagen, dass es BLM-Führer und Aktivisten gibt, die sich gegen Antisemitismus und für Israel einsetzen, wenn das in Wirklichkeit nicht der Fall ist. (Zitiert in Bernstein, S. 75)

Hier zeigt sich, dass die Opfer-Täter-Binarität dazu führen kann, dass bestimmte Formen der Ungerechtigkeit (wie Rassimus gegen People of Color) öffentlich kritisiert werden dürfen, während andere Ungerechtigkeiten (wie Antisemitismus, der doch als eine Form von Rassismus gelten muss) nicht ins Gewicht fallen (dürfen!), weil diese Binarität sonst ins Ungleichgewicht käme (denn Juden sind weiss und privilegiert, also können sie per Definition keine Opfer sein). Weil sich viele jüdische Gruppierungen mit dem Black Lives Matter Anliegen identifizieren konnten - vielleicht genau aus dem Grund, weil sie selbst eine Gruppe bilden, die über die Jahrhunderte marginalisiert wurde? - übernahmen sie die ganze Ideologie gerade mit.


Dieses Statement eines progressiven Juden, Jonah Geffen, nota bene ein Rabbi, macht dies unmissverständlich klar:

Um Stimmgleichheit zu erreichen, werden einige Stimmen verstärkt und um im Diskurs Platz zu schaffen, nehmen andere, die in der Vergangenheit mehr Platz einnahmen, zwangsläufig weniger ein. Das ist kein „Canceln“ ... Das Schwierige an Gerechtigkeit ist, dass einige, um dorthin zu gelangen, einen Schritt zurücktreten müssen, nicht diktieren, nicht orchestrieren dürfen. Und das wird sich wie ein Verlust anfühlen, ist es aber nicht. (Zitiert in Bernstein, S. 93)

Zählt also die Erfahrung und die Einsicht einer Minderheit wie die der Juden nicht mehr? Mit dem liberalen Wert der freien Meinungsäusserung hat dies jedenfalls nichts mehr zu tun. Bernstein bringt es so zum Ausdruck:

Ich stimme zu, dass die Gesellschaft eine besondere Verpflichtung hat, auf die Erfahrungen marginalisierter Menschen zu hören. Ich bin jedoch absolut nicht der Meinung, dass das jemanden dazu berechtigt, sich jemand anderem zu unterwerfen oder einfach zu schweigen. (S. 94)

Der traditionell jüdische (christliche) Weg der sozialen Gerechtigkeit

Die Juden haben (wie die Christen natürlich auch) eine andere Grundlage für soziale Gerechtigkeit als die schwarz-weiss Binarität von Opfer-Täter, obwohl die Täter sich stets verantworten müssen und die Opfern unterstützt werden. David Bernstein (selbst kein gläubiger Jude) zitiert den Rabbi Yitz Greenberg:

Einerseits warnt die Tora immer wieder vor Ungerechtigkeit gegenüber den Armen: „Du sollst in dieser Sache das Urteil über die Armen nicht verdrehen“ (Exodus 23:6) ...

Also ja, wir sollen uns den Marginalisierten, den Unterdrückten, den Armen annehmen. Gerade ihnen widerfährt in der Gesellschaft (und in der Rechtsprechung) Unrecht, wenn immer sie von den Starken ausgenutzt werden. Aber dann schreibt der Rabbi weiter:

Andererseits darf man Gerechtigkeit nicht mit ungerechten Mitteln verfolgen: „Du sollst den Armen in seiner Sache nicht [ungerecht] begünstigen“ (Exodus 23:3); und „Du sollst im Gericht [oder in der Politik] kein Unrecht tun“ (3. Mose 19:15). Die Tora warnt davor, unseren grundlegenden Moralkodex zugunsten der Unterdrückten zu verdrehen. Wir können unsere Prinzipien nicht gefährden und behaupten, dass die Unterdrückten unabhängig von ihrem Verhalten gerecht sind, einfach aufgrund ihrer Identität. Ihre Rasse, ihr Geschlecht, ihr früherer Kolonialstatus und ihre Zugehörigkeit zu einer Randgruppe machen ihre Sache nicht a priori richtig und jeglichen Widerstand dagegen pauschal falsch. (Zitiert in Bernstein, S. 88)

Amen dazu!




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1 Comment


mabuchwitz
Jan 17

Vermutlich ist beim Zitat von Greta Thunberg Dez. 2024 gemeint, nicht Dez. 2025. Passiert mir aber auch immer noch am Anfang eines Jahres.

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