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  • matt studer

Evangelikale und Gender: Eine kleine Navigationshilfe für konservativ Denkende


Wenn ich so ab und zu in das konservativ-progressive Gespräch über Gender hineinhöre, kann es mir schon mal ganz schwindlig werden. Auf beiden Seiten werden Argumente angehäuft, als würde sich das Geschirr stapeln. Social Media gibt dazu jedem noch die Gelegenheit, seine eigene Meinung zu servieren. Und wer wischt am Ende ab?


Dieser Artikel kann als eine Art Selbstreflexion eines 'konservativ' (wer weiss endlich ein besseres Wort?) Denkenden verstanden werden. Ein persönlicher Abwasch sozusagen. Dazu hoffe ich, dass der Artikel all jenen helfen wird die, ähnlich 'konservativ' denkend, im Dickicht der Argumente manchmal nicht mehr so klar durchblicken. Denn man hört so manches auf beiden Seiten. Und häufig wird das, was gesagt wird, dem was tatsächlich geglaubt wird nicht gerecht! Mein Ziel ist es also, ein paar häufig gehörte Argumente, die Progressive gegen Konservative ins Feld führen, zu sortieren und darüber zu reflektieren.


Dieser Artikel ist so aufgebaut, dass er jeweils zuerst ein gängiges Statement über so ticken Konservative ins Feld führt, worauf dann die Antwort folgt, Nein, nicht so ganz, weil ...


Statement 1: Konservative setzen ihre Theologie über den Menschen. Sie sind nicht dazu im Stande, ihre theologische Position mit der Lebensrealität und den Herausforderungen der 'Betroffenen' in Beziehung zu setzen.


Man könnte dieses Argument auch totaler formulieren (und so habe ich es auch gehört): Ihr betreibt eine empathielose Theologe. Ihr reiht Bibelwort an Bibelwort, klammert dabei aber Gottes Liebe und Barmherzigkeit für die betroffenen Menschen komplett aus.


Nein, nicht so ganz, weil ... viele Dinge (und auf die unbarmherzige Polemik mag ich hier nicht eingehen). Zuerst eine Grundsatzfrage: passt sich Theologie der Lebensrealität der Menschen an, oder richtet sich die Lebensrealität des Menschen nach Gottes Wort? Ich möchte hier voraussetzen, dass unsere Theologie - wie wir über ein bestimmtes Thema (z. B. Sexualität und Identität) denken - sich nachvollziehbar aus der Bibel ableiten muss.


Nun, ich glaube, dass gute Theologie immer auf den Menschen und seine existenzielle Situation eingeht. Gute Theologie ist immer kontextuell anstatt sphärisch-abstrakt. Wir beobachten das bei Jesus, der es so gut verstand, den Menschen in seiner existenziellen Situation abzuholen und dort anzudocken, wo der Schuh drückte. Das heisst nicht, dass Jesus seine Meinung (also seine 'Theologie') ständig anpasste. Seine Position forderte zuweilen heraus. Seine Worte wurden abgelehnt. Seine Theologie war nicht für alle hip.


Das Ganze läuft doch letztlich darauf hinaus, ob wir glauben, dass Gott seinen Willen zu diesem Thema klar äussert. Wenn wir hier mit einem Ja antworten, gibt es eigentlich nur zwei Wege: Wir hören auf Gottes Meinung oder wir ignorieren sie. Und gerade hier drückt der Schuh für uns Konservative: Wir glauben, dass Gott ausreichend klar offenbart, wie gelingendes Menschsein geht, inklusive Sexualität, Identität und allem. Es wäre für uns geradezu unbarmherzig und lieblos, in diesem Punkt gleichgültig zu sein. Mir ist bewusst, dass ich mit der Phrase 'dass Gott sich klar äussert' in ein Wespennest steche. Mir fehlt hier der Platz um darauf einzugehen (siehe dazu z. B. diesen Artikel von D. A. Carson).


Doch was ist mit der Lebensrealität der Betroffenen, ihrem oft schmerzvollen Ringen um (sexuelle) Identität? Zeigen wir ihnen eiskalt die Schulter und speisen sie mit Bibelversen ab? Nein! Wir leiden mit, wir hören zu, wir brechen die Beziehung nicht ab, wir beten. Und wenn ich von Gemeinden oder Familien höre, die Personen abgelehnt, ja weggeschickt haben, bin ich zutiefst bestürzt und wütend! Gleichzeitig ist es uns nicht egal, welchen Weg die betroffene Person für sich wählt. Das ist auch eine Frage der seelsorgerischen Begleitung. Theologie und Beziehung sind ja nicht zwei gegensätzliche Pole. Theologie beeinflusst aber auch, wie wir mit Menschen unterwegs sind und vor allem, was wir ihnen sagen.


Seien wir ehrlich: Diese Thematik lässt sich ohne Theologie nicht lösen. Gerade weil uns die Menschen wichtig sind, ringen wir darum zu erfahren, wie Gott über dieses Thema denkt. Und damit kommen wir zum zweiten (verwandten) Statement ...


Statement 2: Konservative wollen ihre Position aus der Bibel beziehen, ganz egal was der wissenschaftliche Befund und das individuelle Gefühl eines Menschen aussagen. Dabei gehen sie (fast) über Leichen und nehmen es in Kauf, dass ihre Theologie menschlichen Schaden verursacht.


Nein, nicht so ganz, weil ... oder doch eigentlich Ja, aber natürlich nur was den ersten Teil dieser Aussage betrifft! Denn wir sind der Überzeugung, dass letztlich nur die Bibel den Menschen ganzheitlich genug beschreiben kann. Ich vermute, dass die Wege an dieser Stelle auseinandergehen. Wenn wir fragen was es heisst, Mensch zu sein, stossen wir auf tiefergehende Fragen, die wir irgendwie beantworten müssen - mithilfe der Bibel oder der Wissenschaft oder des menschlichen Gefühls:

  • Sind Körper und Seele untrennbar miteinander verbunden, oder kommt die Seele 'vor' dem Körper? So theoretisch diese Frage tönt, so entscheidend ist unsere Antwort darauf. Was tun wir, wenn jemand sich in einem 'falschen' Körper wähnt? Welchen Rat geben wir ihm oder ihr? Diese Frage ist komplex und kann meiner Meinung nach nicht nur 'wissenschaftlich' angegangen werden. Wir Konservativen glauben, dass die Bibel vieldimensional zu dieser Frage spricht und befriedigende Antworten gibt (die der Wissenschaft nicht unbedingt widersprechen müssen). (Für mehr Tiefenbohrung siehe hier)

  • Was heisst sexuelle Identität? Ist es das Geschlecht, dass uns ausmacht? Und was, wenn jemand homosexuell ist und dies (gefühlt) einen entscheidenden Teil seiner Identität ausmacht? Können wir dann überhaupt 'theologisch' sagen, dass er falsch liegt? Sagen wir ihm damit nicht, dass er nicht sich selbst sein kann, oder dass er einen wichtigen Teil seiner selbst verleugnen muss um Christ sein zu können? Was sagt die Bibel über menschliche Identität? Was meinen homosexuelle Menschen, die bewusst den zölibatären Lebensstil wählen?

Ich werfe all diese Fragen nicht auf, um sie zu beantworten. Sorry! Ich möchte aufzeigen, dass es wichtig ist, wie wir mit solch grundsätzlichen Fragen umgehen. Hilft uns dabei primär die Wissenschaft (und wenn ja, welche?), unser inneres Gefühl, oder konsultieren wir die Bibel ? Sind wir bereit auch auf jene zu hören, die betroffen sind (homosexuell, dysphorisch) aber trotz ihrem Ringen und Leiden mit ihrer Situation zu anderen Lösungen gekommen sind, als dass die konservativ-theologische Position sie schädigt? Da wir in einer Zeit leben, in der das 'Opfer' eigentlich fast immer recht hat, müssten wir doch auch jene befragen, die zwar betroffen sind, aber nicht zur Mainstream-Lösung kommen (und dann laut Mainstream ihre wahre Identität unterdrücken und sich damit keinen Gefallen tun).


Je nachdem wie man solche Fragen beantwortet führt u. a. dazu, wie man gelingendes

Menschsein, ja wie wir gelingende Sexualität verstehen. Und umgekehrt, was Sexualität hindert oder ihr schadet. Es geht ums Globale. Es lohnt sich also die Quellen, auf denen wir unsere Meinung abstützen genau zu prüfen.


Statement 3: Konservative wollen über andere Menschen verfügen und meinen, ihnen vorschreiben zu können, wie sie ihre Sexualität auszuleben haben. Sie allein bestimmen über richtig oder falsch und verhindern, dass eine anders gelagerte sexuelle Identität in ihrer Mitte Platz finden und sich entfalten kann.


Nein, nicht so ganz, weil ... jeder bestimmt über richtig oder falsch. Für Konservative ist es existenziell richtig und wichtig, dass Gott uns als Mann und Frau geschaffen hat. Da hängt soviel dran für uns. Für Progressive ist es dagegen richtig und existenziell wichtig, dass es mehr gibt und legitimerweise geben darf als nur heterosexuelle Binarität. Da hängt soviel dran für euch. Beide Seiten beanspruchen 'Wahrheit' und nehmen Einfluss. Dies lässt sich in der aktuellen Diskussion gut beobachten. Die Zeiten, wo man noch sagen konnte 'das ist einfach deine Meinung, aber wenn es für dich stimmt' sind irgendwie vorbei.


Nun ist das so ein Ding mit der christlichen Gemeinde. Wie sehr darf sie Einfluss auf das Leben ihrer Mitglieder (oder Besucher) nehmen? Das Thema lässt sich hier nicht klären. Ich möchte nur auf zwei Aspekte eingehen. Die Taktik, sexuelle Fragen für alle offen zu lassen, wird spätestens dann scheitern, wenn es ums Heiraten geht. Es sei denn, das Paar heiratet einfach zivil und damit 'ausserhalb des Kirchlichen'. Und weiter: Natürlich kann eine Gemeinde ihre Schäflein nicht zu einem heiligen Lebensstil zwingen! Aber sie kann eine Richtung vorgeben, in die man unterwegs sein möchte und eine Richtschnur, an der man sich orientiert. Jede Gemeinde und jeder Verband wird das sowieso tun und tut es bereits. Wenn nicht aktiv ausgesprochen dann unausgesprochen. Und wer sich gar nicht festlegen mag, der hat sich doch bereits festgelegt.

Statement 4: Konservative haben eine verdrehte und einseitige Vorstellung von Sünde. Sexuelle Sünde ist für sie per se viel schlimmer als anderen Sünden, die man häufig gar nicht benennen will. Oder habt ihr schon einmal gehört, dass jemandem wegen seiner Gier eine Leitungsfunktion in der Gemeinde versagt geblieben wäre? Anders gefragt, steht das Königreich Gottes auch für Investmentbanker in Frage?


Nein, nicht so ganz, weil ... oder doch ein bisschen. Es stimmt, dass wir (und übrigens alle anderen auch) ständig in der Gefahr stehen, gewisse Sünden zu stigmatisieren. Sünde ist eine tiefgreifende und ganzheitliche Beschreibung des Menschseins nach dem Fall. Es ist also wichtig, dass wir flächendeckend über alle Dimensionen der menschlichen Sünde reden. Letztlich sind wir alle im gleichen Boot und keiner ist besser als der andere. Nur, heute sind wir soweit, dass die konservative Position zu sexualethischen Frage selbst als 'sündig' stigmatisiert wird. In diesem Klima können Konservative eigentlich sagen was sie wollen, sie liegen immer falsch.


Und dann, wenn wir über Sünde in all ihren Facetten reden, sollten wir selbstverständlich umso mehr über das Evangelium in all seinen Facetten reden!


Ich bleibe dabei. Das Thema ist für beide Seiten zu bedeutsam. Für die Progressiven ist es an der Zeit, schleunigst nicht mehr von Sünde zu reden (höchstens von der Ursünde, dem anderen seine Sexualität zu verbieten). Für die Konservativen geht es aus der Bibel klar hervor, dass Sünde bei diesem Thema weiterhin eine Rolle spielt. Für beide geht es letztlich um gelingendes Menschsein, wie Gott es sich gedacht hat und darum was es heisst, Jesus ganz nachzufolgen (mit allen Aspekten des Zerbrochen Seins und Sünde in unserem Leben).


Statement 5: Konservative machen ein eigentliches Nebenthema zu einem absoluten Hauptthema, indem sie immer wieder darauf herumreiten. Dabei gibt es doch nur eine Handvoll Bibelstellen, die überhaupt darüber reden.


Nein, nicht so ganz, weil ... menschliche Identität (inklusive Sexualität) kein Nebenthema ist. Das denken doch auch die Progressiven. Ich vermute sogar, dass das Thema von der progressiven Seite fast stärker gepusht wird, wobei die konservative Seite dann jeweils darauf reagieren darf.


Wenn wir die Story der Bibel ganz lesen, ist das Thema durchaus kein Randthema. Unser biologisches Geschlecht und unser Mann-und-Frau-Sein sind wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz. Darum nimmt die Bibel dieses Thema derart ernst. Und darum nehmen auch wir es sehr ernst, gerade wenn es nun Menschen gibt, die mit ihrem biologischen Geschlecht hadern. Das Thema ist zumindest für diese Menschen ja kein Nebenthema. Ich glaube es wäre hilfreicher, diese Polemik mit dem Nebenthema an den Nagel zu hängen und ehrlich zu sagen, dass das Thema für uns alle relevant ist.


Statement 6: Für Konservative ist die historische Position zum Thema Homosexualität (und damit implizit zum Thema Gender) simpel darum besser, weil sie historisch ist. Wenn man etwas immer schon so gemacht hat, sollte man es auch weiterhin so machen. Doch, hat die Kirche nicht auch in anderen Themen - zum Beispiel der Sklaven- oder der Frauenfrage - umdenken müssen? Hat sie nicht heute andere Positionen dazu als früher, vielleicht sogar andere Positionen als die Bibel es vorschlägt?


Nein, nicht so ganz, weil ... es um mehr geht, als um eine lapidarische Tradition, wie warum man zu Ostern die Eier färbt. Was in diesem Argument implizit mitschwingt, ist die Annahme, dass sich unsere Welt ständig zu etwas Besserem fortentwickelt und wir heute an einem fortschrittlicheren Ort stehen als früher. (Und ich frage mich, inwieweit die Philosophie des guten, alten Hegel's für diese Denke Pate steht?)


Wieso ist es für Konservative wichtig, was die Kirche durch die Zeiten hindurch geglaubt hat? Ich denke, dass dies mit unseren theologischen Grundannahmen zu tun hat. Wir glauben, dass Gott der Kirche seine Wahrheit von Anfang an anvertraut hat und nicht erst heute klarmacht, wie es eigentlich wäre (gerade bei so einem wichtigen Thema!). Ja, die Kirche hat sich immer wieder mal verfahren. Und Gott brauchte immer wieder Leute, die die Kirche auf die rechte Spur zurück führen durften. Trotzdem, kann es denn nicht sein, dass man sich trotzdem über die Jahrhunderte geirrt hat, wenigsten bei diesem Thema? Hypothetisch ja. Aber wer sollte das bestimmen? Für mich klingt es etwas arrogant, wenn wir zweitausend Jahre Kirchengeschichte einfach so wegwischen, weil wir heute endlich eine progressive Sicht der Dinge zu haben meinen. Dazu müssten wir diese Geschichte zuerst gründlich prüfen, bevor wir sie pauschal für 'dürftig' befinden.


Ein weiterer Einwand wäre, dass das Thema Gender früher halt noch gar kein Thema war. Ok, aber das Thema Homosexualität war ein Thema (ohne hier auf die Details eingehen zu wollen - für einen Anfang siehe hier). Zur Zeit der ersten Kirche gab es nicht nur, wie häufig behauptet, missbräuchliche homosexuelle Beziehungen, sondern es gab auch homoerotische Liebesbeziehungen. In anderen Worten, es gibt recht gute und valide Gründe daran zu glauben, dass die Christen dieses Thema von Anfang an behandelten (und ja, dass der Apostel Paulus dies im Blick hatte).


Was aber ist mit den Sklaven und den Frauen? Darüber werden Bücher geschrieben. Nur ganz kurz. Warum spricht die Bibel nicht explizit gegen Sklaverei und verurteilt sie? Sagt uns das nicht, dass Christen 'über' die Bibel und über die kulturelle Vorstellung damals, als der Sklavenhandel noch gang und gäbe war, hinausdenken mussten? Nein. Denn, in der Bibel wird Sklaverei nirgends etabliert. Schon gar nicht als Schöpfungsordnung, wie dies bei Mann und Frau der Fall ist. Vielmehr wird Sklaverei in der Bibel implizit kritisiert, auch wenn keine Revolution gestartet und Sklaven sogar angewiesen wurden, sich im gesellschaftlichen Gefüge 'als Sklaven' ihrer Berufung in Christus gemäss zu verhalten (wobei man noch erwähnen sollte, dass die Sklaverei zur biblischen Zeit gar nicht mit der brutalen Sklaverei der Kolonialzeit zu verwechseln ist). Christen späterer Zeiten haben diese implizite Kritik dann politisch und gesellschaftlich umgesetzt. Damit gingen sie mit und nicht gegen den Strich der biblischen Offenbarung.


Aber was ist mit der Frauenfrage? Hat die Kirche nicht wenigsten hier schlussendlich (!) umgeschwenkt, vom zweitausendjahre alten Patriarchat zur befreiten Frau? Es kommt darauf an. Ich meine, dass die Bibel selbst das antike Patriarchat unterlief und eine ganz neue Geschlechterordnung auf den Plan rief, ohne dass sie die unterschiedlichen Rollen von Mann und Frau nivelliert hätte. (Siehe dazu meinen Ansatz hier)


Ich hoffe mein Küchendienst hat einigermassen dabei geholfen, die 'Teller' mal auf dem Küchentisch auszulegen und vor sich zu haben. Mein Votum zur Diskussion wäre, dass wir mit den pauschalen Gegensätzen wie 'Ihr seid nur für Theologie, aber wir sind für die Menschen' oder 'Wir sind fortschrittlich, wissenschaftlich und kulturell sensibel, aber ihr seid biblizistisch und historisch zu gutgläubig' aufhören würden. Die Thematik ist komplexer als das. Mir ist klar, dass auch wir Konservativen zu unbegründeten Pauschalurteilen über Progressive kommen. Aber diesen Artikel wird wahrscheinlich besser ein Progressiver schreiben müssen.


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