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  • matt studer

Evangelikale und Gender nach dem Post von Manuel Schmid

Aktualisiert: 16. März 2023


Was so ein Facebook-Post alles auslösen kann! Und meine Güte, was eine Predigt alles auslösen kann! Ja, was dieses Thema unter uns Christen auslöst! Ansporn für mich, einen kurzen Blick auf das Spielfeld zu werfen und ein paar wenige strategische Überlegungen mit ins Spiel zu bringen.


Spielregeln dieses Artikels, um was es mir geht und nicht geht:

Mir geht es nicht darum, meine Position zu Gender differenziert darzulegen, sondern auf die Argumentation hinter der Argumentation aufmerksam zu machen. Insofern nehme ich keinen Bezug auf Leo Bigger's Predigt und ob man zu diesem Thema seelsorgerlich sensibler und kulturell differenzierter predigen sollte (man sollte). Auch schreibe ich nicht primär 'gegen' Manuel Schmid. Er ist einer unter vielen, die so argumentieren (wenn auch einer, der es gekonnt und differenziert tut).


Weiter könnte (und müsste) man auf folgende drei Aspekte in Schmid's Replik eingehen:

  • Das kulturelle Argument: Die 'konservative' Position eines Leo Bigger und anderen seiner Sorte hat gemäss Schmid das kulturelle Umfeld der Bibel nicht verstanden, sondern liest ihre eigenen (modernen) Vorstellungen in den biblischen Text hinein.

  • Das wissenschaftliche Argument: der wissenschaftliche Konsens geht laut Schmid dahin, dass es sich 'bei Homosexualität um ein ganzheitliches Phänomen handelt, das tief in der Persönlichkeit und im Selbstverständnis eines Menschen verankert ist und nur um den Preis seelischer Schädigung unterdrückt oder übergangen werden kann.' (S. 4) Hier müsste man präzisieren: Was meint unterdrücken? Ist eine seelische Schädigung ungeachtet der Umstände vorprogrammiert, oder gibt es andere Beispiele? Ist gemeint, dass man seine Homosexualität leugnet und so tut als wäre man hetero? Oder eher dass man seine Homosexualität einfach nicht aktiv gestaltet und auslebt, dass man zölibatär lebt? Sind die Studien und Belege, die ins Feld geführt werden, wissenschaftlich haltbar?

  • Das seelsorgerische Argument: Befürworter von Gender nehmen nach Schmid's Aussagen die Betroffenen ernst, wogegen die Konservativen den Betroffenen mit ihrer Meinung 'Gewalt' antun. Ja, Konservative würden die Wirklichkeit ausblenden und sie seien nicht in der Lage, sich auf die 'neue Wirklichkeit' einzulassen.

Ich überlasse es anderen, fähigeren Kommentatoren auf diese Argumente zu antworten.


Zunächst einmal hilft es uns vielleicht wieder einmal klar vor Augen zu haben, dass die Leo Bigger's und die Manuel Schmid's dieser (evangelikalen) Welt mit unterschiedlichen Meta-Stories arbeiten. Sie agieren in unterschiedlichen (unvereinbaren?) Paradigmen und kommen nicht zuletzt darum auf ganz unterschiedliche Lösungen.


Zwei Stories - nur unterschiedlich oder unvereinbar?

Die eine Story: Es gibt da eine gute, alte Schöpfungsordnung, die Gott von allem Anfang an geschenkt hat. Mann und Frau [1], geschaffen nach dem Bilde Gottes, gleichwertig aber nicht identisch, sondern komplementär und gemeinsam das volle Ebenbild Gottes widerspiegelnd. Dieses binäre Paar ist die biblische Ausgangslage und ein normativer Orientierungspunkt fürs Menschsein in dieser Welt. Ein erfülltes Zusammenleben finden Mann und Frau in der von Gott gestifteten Institution der Ehe. Dieses Bündnis zwischen einem Mann und einer Frau weist sogar über sich hinaus auf ein grösseres Geheimnis, eine noch tiefere Realität hin: Nämlich die mystische Einheit von Christus mit seiner Braut, der Gemeinde (Epheser 5). Ja, die Frau-Mann-Ehe findet dort ihre letztendliche Erfüllung. Denn im Himmel werden wir nicht mehr heiraten (und folglich leider Gottes auch keinen Sex mehr geniessen!).


Was Gott zusammengefügt hat, soll man nicht trennen, jedenfalls nicht vermischen. Aber der Sündenfall verkompliziert die menschliche Realität jenseits Eden. So scheint es heute diffuser denn je, ob das binäre Mann-Frau-Paar die einzig mögliche Alternative sei und ob Gott nicht mehr Vielfalt in seiner menschlichen Schöpfung angelegt habe. Die eine Story ist überzeugt: Gottes Schöpfungsrealität lässt sich nicht so einfach aufheben. Es tut der Schöpfung gerade nicht gut, wenn sie gegen ihre Maserung rebelliert (Römer 1). Wie ein Freund von mir meint: 'Den Strukturen und Linien der geschaffenen Natur entlang, anstatt gegen sie vorzugehen, das hat die ökologische Bewegung längst als einen elementaren Baustein des Menschseins entdeckt. Dasselbe muss die Menschheit nun auch in Bezug auf die eigene Beschaffenheit entdecken: Sexualität ist entlang der physischen Konturen zu geniessen.'


So ist der Weg zur zukünftigen Hochzeit mit Christus nicht für alle Menschen derselbe. Er gestaltet sich so für die Verheirateten (1. Kor 7,1-16) und anders für Singles (1. Kor 7,17-38 und Mt. 19,12). Verzicht auf die Ehe ist eine mehr als valide biblische Option für den, dem eine heterosexuelle Ehe-Beziehung entsagt bleibt. Ja, ein zölibatärer Lebensstil ist ein gleichwertiger Lebensentwurf im Königreich Gottes. Der Zölibatäre ist 'freigesetzt', Gott in grösserem Mass zu dienen, so wie Paulus (und Jesus) dies für sich in Anspruch nahmen.


In der alten Story zeichnet die Bibel durch die Bücher hindurch ein kongruentes Bild der Situation: Gottes Absicht war es immer gewesen, den Menschen als Mann und Frau und füreinander zu schaffen. Diese Absicht wird weder durch Jesus noch Paulus über den Haufen geworfen. Im Gegenteil, sie wird bis ins Neue Testament hinein bestätigt.


Die andere Story: Es gibt da eine Schöpfung Gottes, die zutiefst auf Vielfalt hinzielt. Gott kreierte eine schier unendliche Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten. Warum also nicht auch eine Vielfalt bei menschlichen Identitätsformen? 'Am Anfang schuf Gott Mann und Frau' (oder männlich und weiblich) mag vielleicht darauf hinweisen, dass dieses Paar (gerade wegen ihrer reproduktionalen Funktion) der normative Gedanke Gottes war (und auch heute noch ist). Doch schliesst das Prinzip der Vielfalt andere Menschseinsformen deswegen nicht aus, sondern inkludiert sie unbedingt. Vielfalt in allen Formen ist göttlich gesegnet und soll geschützt, ermutigt und befähigt werden.


Es gibt Menschen, die sind einfach anders. Ihre Identität konstituiert sich anders als bei den meisten anderen Menschen. Gottes Herzschlag ist, dass sie ihre non-binäre Identität entfalten können, sie nicht unterdrücken müssen, wie das bis anhin leider nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft der Fall war. Die Wegweiser in der Bibel weisen crescendo-artig und progressiv in eine grössere Diversität als es im Garten Eden der Fall war. Dies öffnet einen weiten Raum, um sich von den 'patriarchalischen' Texten der Bibel zu distanzieren. Denn im Himmel werden nicht ausschliesslich Mann und Frau, sondern ebenso alle anderen möglichen Daseinsformen vorkommen, alle vereint in Christus.


Welche dieser beiden Stories fühlst du mehr?


Und jetzt zu den Argumenten hinter den Argumenten

Ich glaube, dass wir - diese Meta-Erzählungen auf dem Schirm - nun besser verstehen können, wie beide Seiten argumentieren. Legen wir die Karten offen auf den Tisch.


Manuel Schmid attestiert der konservativen Seite einen rigorosen Biblizismus, 'der allen anderen vorwirft, den Wortlaut der Bibel zu verdrehen und nach den eigenen Wünschen und Gefühlen umzuinterpretieren, während man selbst einen unmittelbaren Zugang auf die Aussage Gottes zu haben beansprucht.' (Seite 1) Hier schwingt wieder einmal das gut etablierte Argument mit, dass 'Bibelfundamentalisten' die Bibel wörtlich und damit 'ernst' nehmen, warum sie den Progressiven dann vorwerfen können, diese läsen die Bibel nicht wörtlich und nähmen sie darum auch nicht ernst. Dazu gibt es zwei Dinge anzumerken.


Erstens sollte es uns doch stets darum gehen, die Bibel beim Wort zu nehmen (d. h. den Literalsinn zu berücksichtigen) und in einem Prozess der Auslegung zu eruieren, was ein bestimmter Autor sagen wollte. Ich gehe davon aus, dass dies beiden Seiten ein Anliegen ist. Nun ist es so, dass die Seite der einen Story die Bibel schöpfungstheologisch in die Richtung liest, dass Gott den Menschen normativ als Mann und Frau schuf und dabei die Grau- und Rosafarbtöne gewollt wegliess. Das ist zunächst einmal eine legitime und DIE historisch belegte Lesart. Die Kirche aller Zeiten hat den Schöpfungsbericht bis heute hetero-normativ gelesen. Und dies nicht zwingend, weil sie einem patriarchalischen Geist aufsass. Vielmehr hat sie versucht ihre Theologie aus dem biblischen Kanon zu entfalten, nicht nur aus den ersten drei Kapiteln der Bibel.


Die Bestätigung dafür kommt dann prompt aus dem Mund von niemandem Geringerem als dem Mensch gewordenen Schöpfer Jesus Christus, der in Matthäus. 19,1-12 das Geschlechtsbinär (von Genesis 1 und 2) als normativ für (s)eine Sexualethik sieht. Und ja, es spielt für die eine Story eine Rolle, dass Jesus non-binäre Formen hier nicht erwähnt! Weiter gibt es dann unzählige ethische und systematische Entwürfe über die Binarität des Menschseins, wie es die Bibel gemäss dieser Lesart präsentiert (von Theologen, die bei Vertretern der anderen Story sonst ganz gut ankommen). Wenn nun ein Leo Bigger sich auf eine Schöpfungsordnung beruft, ist er deswegen kein Biblizist, sondern kann sich in eine gut betuchte Ahnengalerie einreihen. Die Beweislast liegt meines Erachtens auf der Seite der anderen Story. Denn, woran können wir in der Bibel und insbesondere im Schöpfungsbericht Grautöne festmachen, die das hetero-sexuelle Paradigma erweitern oder es sogar stürzen?


Zweitens: Der Biblizismus-Vorwurf ist das Totschlagargument schlechthin. Es wird hier impliziert, dass die eine-Story-Leute die Bibel so naiv wortwörtlich läsen, dass sie sich selbst die Kugel gäben. Wer liest denn die Bibel heute noch dermassen wörtlich? Und überhaupt, wer die Schöpfung des Menschen als Mann und Frau wörtlich und normativ lese, der müsse ja dann konsequenterweise auch Vegetarier sein! Wirklich? Wenn dem so wäre, müssten wir dann nicht auch das Gebot der Fremdenliebe in Lev. 19 hinterfragen (Vers 34)? Steht es doch praktisch direkt neben dem Verbot, seinen Bart nicht zu stutzen (Vers 27). Unterscheiden bei den biblischen (vor allem Alttestamentlichen) Geboten tun wir alle und es gibt gute Kriterien hierfür. Anders gesagt, 'Biblizisten' sind nicht naiv. Sie betreiben nicht einfach 'schlechte Theologie', sondern eine andere Theologie.


Dem Biblizismus-Vorwurf folgt meist die Unterstellung auf Schritt und Tritt, dass man das Moment der Auslegung verdränge: Wenn ich doch simpel so lese, wie es da steht, brauche ich es ja nicht auszulegen. Gemäss Schmid ist hier 'kein Bewusstsein dafür erkennbar, dass man Aussagen der Bibel gar nicht anders aneignen kann, als durch Auslegung und Interpretation und dass in diesen Prozess unweigerlich zahlreiche eigene Vornannahmen, biografische Prägungen, kulturelle und zeitgeistige Einflüsse hineinspielen.' (S. 2) Gut, es ist wichtig sich einzugestehen, mit welchen Prämissen man an den Text herangeht. Dazu eine Gegenfrage: Ist alles nur Auslegung, oder kann man mittels Auslegung eines Tages zur biblischen Wahrheit vordringen? Und, haben die andere-Story-Leute ihre Prämissen auch genügend hinterfragt? Es tönt nämlich für mich manchmal so, als ob 'ihre Wahrheit' für alle verbindlich gemacht wird. Damit meine ich den progressiven Konsens der besagt, dass die alte hetero-normative 'Wahrheit' unter keinen Umständen wahr sein kann!


Natürlich hat keiner von uns den direkten Zugang zu Gottes Wahrheit gepachtet. Unsere Diskussionsgrundlage sollte die Bibel sein und bleiben. 'Wir glauben, dass die Bibel dies und das lehrt und dass unsere Auslegung aus diesen und jenen Gründen gerechtfertigt ist.' Es braucht Demut und die Bereitschaft von anderen zu lernen. Demut sollte aber nicht als Vorwand dienen, keine Stellung mehr zu beziehen und solche Sätze, die mit 'wir glauben die Bibel sagt!' beginnen, nicht mehr zu äussern. Im Gegenteil: Demut bedeutet auch, den Mut zu haben zu sagen, ‘meiner Meinung nach will uns die Bibel sagen, dass wir ...’ Dabei hilft, wie Schmid vorschlägt, die eigenen hermeneutischen Prämissen so gut es geht auf den Tisch zu legen (auch wenn wir nicht erwarten können, dass der Prediger dies vor jeder Predigt tun wird).


Dies wäre gleichzeitig mein Aufruf an die Anhänger der anderen Story: Welches sind eure hermeneutischen Grundannahmen? Mit welchen Vorzeichen lest ihr die Bibel, gerade solche Stellen wie Römer 1 oder den ersten Korintherbrief? Wie entspricht eure Lesart dem biblischen Gesamtzeugnis? Wenn Schmid beispielsweise von 'vielen unerträglich sexistischen Geboten im Buch Leviticus' spricht (S. 2), nota bene Gebote, die Gott Mose persönlich diktierte (Lev. 1,1), tauchen bei mir hermeneutische Fragezeichen auf (die ich in anderen Artikeln beantworten müsste).


Am Ende müssen sich beide Stories an der Bibel messen, oder nicht?


Diskutieren ohne in einen Kulturkampf zu verfallen?

Damit sind wir bei einer weiteren Grundsatzfrage angelangt:

Was, wenn unsere Bibelverständnisse sich so unterscheiden, dass wir nur noch wenig Teilmengen haben? Vielleicht trifft David Gushee's Votum mittlerweile ja auch auf uns zu:

Ich glaube auch, dass der Versuch den Dialog aufrecht zu erhalten, letztlich fruchtlos bleiben wird. Die Unterschiede sind einfach zu unüberbrückbar. Sie werden täglich in den sozialen Medien re-artikuliert. (meine Übersetzung)

Schmid wirft Bigger vor, er schüre einen Kulturkampf zwischen den 'bösen, gefährlichen' Progressiven und den 'bibeltreuen' Konservativen. Auch dazu zwei Gedanken.


Erstens, Kommunikation ist vieles. Lasst uns liebevoll uneins sein! Das war schon mein Votum hier. Als Nachfolger von Christus lieben wir immer, auch jene, die uns auf einer ideologischen Ebene bekämpfen.


Zweitens, einen Gegenfrage: Lässt sich ein Kampf überhaupt vermeiden? Wenn sich zwei Positionen gegenüberstehen, die doch recht konträre Meinung vertreten und es beide als dringend und wichtig empfinden, für ihre 'Wahrheit' einzustehen? [2]


Die Konservativen stehen in der Gefahr, aus ihrem konservierenden Impuls heraus die andere Seite als 'Verräter des Bewährten' zu brandmarken. Dabei verpassen sie, wirklich gut hinzuhören und das Anliegen der anderen Seite zu verstehen. Doch Obacht auch für die Progressiven: Ihr schürt den Kampf, wenn ihr die Konservativen als 'hinterwäldlerische und regressive Unterdrücker der neuen Befreiung' hinstellt. Dabei schwingt, so nehme ich es zumindest wahr, die Annahme mit, dass das Neue automatisch das Richtigere ist und dass der heutige Kontext doch bitte das Sagen haben und die alten Wahrheiten, Meinungen und Haltungen herausfordern soll. So wird aber das Grundanliegen der Konservativen, nämlich dass die Bibel (durch ihre alten Wahrheiten) unsere gegenwärtige Lebenswelt kritisch hinterfragen darf, nicht wahrgenommen.


Meine Vermutung ist, dass die Diskussion auch nach dem Verrauchen des schmidschen Posts noch weitergehen wird. Darum zum Schluss noch dieses chinesisches Sprichwort: 'Vergiss es nicht, heute deinem (progressiven oder konservativen) Gegner etwas Gutes zu tun.'



Frühere Beiträge zum Thema:


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[1] Die andere Story betont, dass in Genesis nicht Mann-Frau, sondern männlich-weiblich steht. So what? Ich sehe nicht, in welche Richtung dieses Argument gehen soll, denn faktisch hat Gott ja den Mann (männlich) und die Frau (weiblich) geschaffen.


[2] Siehe dazu das Statement von Stephan Jütte im Gespräch mit Schmid: ‚Wenn wir wirklich theologische Sätze sagen, berühren diese immer irgendwie das Gottesbild, das Menschenbild und letztlich damit das Selbstverständnis dessen, der spricht‘ (ca. Min. 26) Anders gesagt, Theologie ist existenziell wichtig und darum setzen wir uns dafür ein.


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