top of page

Die protestantisch-evangelikale Bewegung kommt dem biblisch-historischen Christentum (theoretisch) am nächsten - mit Gavin Ortlund

  • matt studer
  • 23. Sept.
  • 14 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 24. Sept.


And this one thing at least is certain; whatever history teaches, whatever it omits, whatever it exaggerates or extenuates, whatever it says and unsays, at least the Christianity of history is not Protestantism. If ever there were a safe truth, it is this. (Henry Newman, zitiert in Gavin Ortlund: What it Means to be Protestant)

Immer wieder hört man von evangelikalen Christen, die sich zum römisch-katholischen oder dem orthodoxen Christentum hingezogen fühlen, weil sie dort eine Brise alter, aber frischer Luft verspüren - eine Luft, die nicht so modern und dünn, sondern mit dem Flair des historischen Christentums gesättigt ist - wie man annimmt. [1] Das berühmte Zitat von Newman, einem Anglikaner, der sich im Verlauf seiner christlichen Lebenslaufbahn zum römisch-katholischen Glauben 'bekehrte', bringt unmissverständlich zum Ausdruck, was der treibende Gedanke dieser Bewegung ist: Dass das protestantisch-evangelikale Christentum vor allem eines sei, nämlich modern, neuartig und zu sehr an unsere Zeit angepasst. Im fehle der Bezug zum historischen Christentum, wie wir ihn im Römisch-Katholischen oder den verschiedenen Spielarten der orthodoxen Kirche noch vorfinden. Warum also nicht die 'Oberflächlichkeit' des Protestantischen verlassen und zu einer ursprünglicheren, reicheren Form des Christentums zurückkehren, einer Form, die näher beim Original ist?


Gavin Ortlunds Sicht, die ich teile, steht spiegelverkehrt zu Newman: Denn eigentlich ist es gerade der evangelikale, protestantische Glaube, der in seinem Kern das historische Christentum am Besten bewahrt, wogegen die anderen grossen kirchlichen Players, wie die römisch-katholische und die orthodoxen Kirchen in Teilen substantiell vom Original abgewichen sind. Das Evangelium scheint am hellsten bei den Evangelikalen. Eigentlich müssten die anderen zum protestantisch-evangelikalen Glauben 'zurück' konvertieren.


Doch zunächst ist etwas Begriffsklärung angebracht. Was meinen wir mit protestantisch und evangelikal? 'Protestantisch' bezieht sich auf all die Traditionen, die ihren Ursprung in der Reformation haben. Insofern ist dabei mehr impliziert als nur evangelikal (z. B. wäre da die lutherische Kirche oder die Anglikaner mit dabei, insofern sie denn ihren eigenen Grundsätzen wie dem Augsburger Bekenntnis oder den 39 Artikel treu bleiben würden). Gavin Ortlund hat in seinem Buch eine breite Verwendung des Begriffs im Blick: Mere Christianity (in Anlehnung an C. S. Lewis's Buch mit diesem Titel). Also grob gesagt alle Formen des protestantischen Christentums, die die 5 Solas der Reformation hochhalten. Hier rechne ich die evangelikale Bewegung definitiv mit dazu. Um die Kontinuität der evangelikalen Bewegung mit dem Protestantismus zu betonen, verwende ich in diesem Artikel den Begriff 'protestantisch-evangelikal'.


ABER, die evangelikale Bewegung ist doch schon auch modern, sogar oberflächlich und sicher nicht antik! Ja, irgendwie manchmal (leider häufig) schon. Meint auch Ortlund:

Es gibt in der zeitgenössischen protestantischen [evangelikalen] Praxis auf Volksebene vieles, was diese Charakterisierung [dass der Evangelikalismus nicht in der Geschichte verankert ist] verständlich macht. (Google's Übersetzung)

Das wäre übrigens auch ein Aufruf an uns, wieder mehr an die Quellen zurückzukehren. Denn was wir nicht vergessen dürfen ist, dass die evangelikale Bewegung ein reiches Erbe zu verwalten hat, das sich eben von der Reformation her über die pietistischen und puritantischen Strömungen bis in die neuere Zeit der Lausanner-Bewegung ergiesst. [2](Und nein, die Reformation war nicht der Beginn des wahren Christentums, sondern die Fortführung des Originals in Abgrenzung zu den 'Weiterentwicklungen', die vom Original wegführten - mehr dazu weiter unten). Die Jesus25-Konferenz war für mich so eine Rückbesinnung auf diese Quellen, aus denen sich der evangelikale Glaube speist (vgl. dazu meine kritisch-wohlgemeinte Reflexion über diese Konferenz).


Noch ein Wort darüber, warum ich diesen Beitrag schreibe:

Es scheint, als würden wir Evangelikalen heute vor allem mit oder gegen 'progressive, post-evangelikale' Christen diskutieren. Diese Auseinandersetzung ist wichtig und ich beteilige mich immer wieder gerne aktiv daran. Doch auf die andere Seite hin, durch das Fenster in den Raum des römisch-katholischen oder orthodoxen Glaubens, scheint keine öffentlich breite Diskussion stattzufinden (ausser vielleicht in konservativen Kreisen, die gerne mal auf Johannes Hartl, den Gründer des Gebetshaus Augsburg, der übrigens auch ein Buch zum katholischen Glauben - 'Katholisch als Fremdsprache' - verfasst hat, schiessen). Dabei wäre diese Auseinandersetzung wichtig und zugleich spannend. Mir geht es hier primär um das spannende Element an dieser Diskussion, nicht darum, um jeden Preis das Haar in der Suppe der anderen zu finden. Wie wir sehen werden, geht es auch nicht um Bagatellen, sondern um fundamentale Punkte des christlichen Glaubens, einer biblischen Theologie, die zur Debatte stehen. Nicht zuletzt beschäftigt mich das Thema, weil ich Leute kenne, die der Idee Newman's folgen, dass der originalere Glaube nicht bei den Evangelikalen, sondern woanders zu finden sei.

ree

Die DNA der protestantisch-evangelikalen Bewegung: Eine Erneuerungsbewegung innerhalb der einen, apostolischen Kirche

Protestantism is actually the tradition best positioned to retain and cultivate catholicity (that is, the wholeness of the church throughout space and time). (S. 4)

Warum soll gerade die protestantisch-evangelikale Tradition am Besten dafür geeignet sein, den historisch-christlichen Glauben zu bewahren und immer wieder in eine neue Zeit hinein zu transportieren? Ortlund verweist hier auf Philip Schaff und seine Gedanken in The Principle of Protestantism (ein Papier, das sich sehr gut als Ausgangspunkt für die Diskussion über die Essenz von 'protestantisch-evangelikal' anbietet). [3] Schaff nennt vier Prinzipien als grundlegend für den protestantisch-evangelikalen Glauben.


  • Prinzip 1: Die protestantisch-evangelikale Bewegung kann das Gute (das Alte) in anderen Traditionen bejahen und 'übernehmen', sowie das manchmal fragwürdig 'Neue' kritisch hinterfragen

Es ist mitnichten so, dass nur die protestantisch-evangelikale Tradition alles richtig und die anderen alles falsch machen und glauben würden. So als ob der wahre christliche Glaube nur bei uns zu finden wäre und alle anderen die puren Häretiker sind. Nein, wir finden bei den anderen auch viel Gutes. So meint Schaff:

Es ist eine intolerante und engstirnige Vorstellung, die gesamten [Katholischen] und [Griechisch-Orthodoxen] Kommunionen als gänzlich außerhalb der Kirche stehend zu betrachten, als wären sie lediglich würdig, als gigantische spirituelle Null aus der Geschichte getilgt zu werden. (Schaff, zitiert in Ortlund)

Philip Schaff sieht die Reformation nicht als Revolution, die alles bisher Dagewesene über den Haufen geworfen hat, sondern als Erneuerungsbewegung innerhalb der Kirche. Natürlich kritisierten die Reformatoren gewisse 'Auswüchse' der katholischen Kirche zu ihrer Zeit. Aber nicht, weil sie etwas grundsätzlich Neues, Besseres installieren wollten, sondern weil sie gerade diese 'Auswüchse' als Entwicklungen erkannten, die dem alten Original entgegenstanden. Ihr Anliegen war es, dieses Alte zu bewahren (dessen Kern sie in der römisch-katholischen Kirche immer noch vorfanden) und die Kirche gemäss dem alten, biblisch-christlichen Glauben zu reformieren und nicht, eine neue Kirche zu gründen!


Die Reformation war eigentlich eine Form der Wiedergewinnung oder Rückgewinnung (retrieval) des alten, biblischen und kirchlichen Glaubens. Calvin berief sich oft auf die Kirchenväter (auch wenn er ihre Theologie nicht durchs Band unkritisch übernahm). Er argumentierte gegen die Vertreter der römisch-katholischen Kirche auf 'katholischem und historischem Boden' (im Sinne von, was die Kirche bis anhin geglaubt hat, in neuerer Zeit aber verworfen hat', zum Beispiel. was die Lehre von der Mutter Gottes oder die Sakramente betraf.) Calvin beschreibt das reformatorische Projekt in seinem Brief an den Kardinal Sadoleto, einem wichtigen Vertreter der römisch-katholischen Kirche:

Sie wissen, Sadolet, dass wir nicht nur viel enger mit der Antike [der frühen Kirche] übereinstimmen als Sie, sondern dass wir nur versucht haben, die alte Form der Kirche zu erneuern, die zunächst von ungebildeten Männern mit gleichgültigem Charakter beschmutzt und entstellt und später vom römischen Pontifex und seiner Fraktion schändlich verstümmelt und beinahe zerstört wurde. (zitiert in Ortlund)

Bezeichnend ist hier das 'beinahe'. Calvin und die Reformatoren glaubten nicht, dass die katholische Kirche ihrer Zeit gar nicht mehr christlich war.

Sicherlich hat die Kirche Christi gelebt und wird leben, solange Christus zur Rechten des Vaters regiert. Sie wird von seiner Hand gestützt, durch seinen Schutz verteidigt und durch seine Macht beschützt. (Vorwort der Institutionen, an König Francis, zitiert in Ortlund)

Und auch der Reformator Martin Luther, der sich in bestimmten Punkten so vehement gegen die Kirche stellte, konnte schreiben: 'Unter dem Papsttum gibt es viel Christliches und Gutes.' (zitiert in Ortlund, S. 15)


Da war doch noch etwas. Nicht alle Substanz ging verloren. Aber - und so sehe ich es noch heute - wurde der originale, biblische Glaube manchmal überschrieben und durch Neuerungen und Entwicklung zum Teil substanziell verändert (mehr dazu weiter unten). Es gilt also sowohl das Gute in anderen christlichen Traditionen zu bejahen, als auch die eigentlichen Neuerungen dieser Traditionen, die sich über die Zeit entwickelte kritisch zu hinterfragen.


In diesem Sinne sind Evangelikale nicht a-historisch oder prinzipiell gegen das Alte und nur für das Neue. Wir sind im Gegenteil danach bestrebt, das wirklich Alte zu suchen und neu für uns zu gewinnen. Und mit diesem 'Alten' meine ich eben nicht nur das, was in der Bibel steht, also die Neutestamentliche Kirche oder das Apostolische Christentum in Reinform, weil danach nichts Gutes bis zur Reformation (oder gar bis heute) mehr kam. Nein, wir schätzen die Geschichte der Kirche, die theologischen Formulierungen der Väter und der Konzile, die Schriften der Theologen im Mittelalter, usw. - insofern sie den biblisch-christlichen Glauben treu über die Zeit transportieren. [4]


  • Prinzip 2: Die protestantisch-evangelikale Tradition hat die Voraussetzungen, um ihre eigenen Fehler und Sünden zu adressieren und sich zu erneuern (= Prinzip 3: 'Ecclesia Semper Reformanda')


Damit die protestantisch-evangelikale Bewegung eine Erneuerungsbewegung innerhalb der einen, apostolischen Kirche sein kann, die die Kirche immer wieder zu ihren Wurzeln zurückführt, muss sie selbst nicht makellos perfekt sein. Sie ist sich bewusst, dass sie es nicht ist und das Reformation etwas Kontinuierliches ist, das immer wieder anfällt (denn angekommen sind wir erst, wenn das perfekte Jerusalem aus dem Himmel herabkommt und wir Gott von Angesicht zu Angesicht sehen werden). Schaff schreibt:

Der Respekt vor der Reformation als göttliches Werk verbietet keineswegs das Eingeständnis, dass sie eine Mischung aus Irrtum und Sünde beinhaltete; so wie der Teufel dort, wo Gott eine Kirche baut, immer eine Kapelle daneben errichtet. (zitiert in Ortlund, S. 7)

So geht es uns auch heute noch und wir tun gut daran nicht allzu fest zu glauben, dass in unserem eigenen Haus bereits alles in bester Ordnung sei. Denn dann würden wir den Impuls der Erneuerung verlieren. Trotzdem kann es nicht die Lösung sein, in die römisch-katholische oder orthodoxe Kirche überzuwechseln, auch wenn es mühsam ist, den eigenen Stall kontinuierlich auszumisten. [PS: Ich bin mir schon bewusst, dass das für die einen tatsächlich die befreiende Lösung ist]. Ortlund legt hier eine balancierte Variante vor:

Protestanten können heute behaupten, dass die Reformation gerechtfertigt war und [immer noch] ist, müssen aber gleichzeitig verschiedene unglückliche Tendenzen anerkennen, die einen Großteil des Protestantismus in seiner Gesamtentwicklung und seinem gegenwärtigen Zustand geprägt haben. (S. 9-10)

Zu diesen unglücklichen Tendenzen zählt Ortlund die Tendenz des Protestantismus, sich immer weiter zu spalten, wegen jeder noch so kleinen Meinungsverschiedenheit. Man könnte weitere Dinge anfügen (siehe dazu meine Serie 'Gute Zeiten - Schlechte Zeiten'). Wie gesagt, der Stall muss auch bei uns ausgemistet werden.


Wer sich heute die Frage stellt, ob er oder sie sich lieber der unvollkommenen Variante Römisch-Katholisch/Orthodox, oder dann der unvollendeten Variante Protestantisch-Evangelikal zuwenden möchte, sollte jedoch nicht nur bedenken, wer näher bei der Bibel und der ersten Kirche ist, sondern wer besser aufgestellt ist, über die Zeit immer wieder näher zu diesem Original hinzuwachsen.

Welche Seite ist am besten positioniert, um voranzukommen, um Fortschritte zu machen und Spaltungen zu überwinden? (S. 10)

Und hier meine ich, hat die prostantische-evangelikale Seite eindeutig einen Vorsprung gegenüber anderen Traditionen, die diesbezüglich weniger flexibel sind. Ecclesia Semper Reformanda, eines der Mottos der Reformation und gleichzeitig der Untertitel von Philip Schaffs Schrift, verdeutlicht das protestantische Verständnis, dass die Kirche sich ständig oder immer wieder erneuern muss, damit sie gesund bleibt, dass sie sich und ihre Lehre immer wieder an der Schrift prüfen und justieren muss (sola Scriptura). Hier haben es die anderen Player bedeutend schwieriger, da sie nicht nur die Schrift, sondern die Tradition auf gleicher Stufe haben wollen (obwohl das Thema bei den orthodoxen Kirchen etwas anders gelagert als bei der römisch-katholischen Kirche). Das Problem liegt darin, dass die Kirche über die Zeit ihre 'Traditionen' anhäuft, die verbindlich werden und nicht mehr hinterfragt werden dürfen, kurz, dass Tradition zu Dogma wird.


Das bedeutet nicht, dass wir protestantischen Evangelikalen grundsätzlich gegen eine theologische Weiterentwicklung des Dogmas sind. So stellen wir uns hinter das Nikäno-Konstantinopolitanum (eine theologische Entwicklung des 5. Jahrhunderts n. Chr.) sowie andere kirchliche Bekenntnisse, die eine biblische Theologie entfalten und auf Papier bringen. Jedoch müssen solche Bekenntnisse für uns ganz organisch aus dem Zeugnis der Propheten und Apostel (der Bibel) herauswachsen und dürfen nicht gegen oder über dieses Zeugnis (hinaus)gehen. Hier liegt der Unterschied. Die römisch-katholische Kirche ist in der Lage, ihre Tradition parallel zum biblischen Kanon zu entwickeln und in Folge zu dogmatisieren. So erklärt es sich, dass solche Lehren wie die Himmelfahrt Marias in der römisch-katholischen und die Verehrung von Ikonen in den orthodoxen Kirche über Zeit zu unantastbaren und zentralen Dogmen wurden. Das Stichwort ist 'über Zeit'. Denn es lässt sich anschaulich aufzeigen, dass solche Dogmen nicht nur unbiblisch, sondern auch nicht kompatibel mit der Mainstream-Lehre der Kirche über weite Zeit sind - ja, dass diese Lehren in ihrer Entwicklung bis hin zu ihrer Dogmatisierung nicht unbestritten angenommen, sondern von bedeutenden Lehrern der Kirche abgelehnt wurden. Genau da liegt der springende Punkt: Diese und andere Lehren entwickelten sich über die Zeit und gegen Widerstand, bis sie allgemein angenommen wurden (lest dazu unbedingt die beiden Kapitel zur marianischen Himmelfahrt und Ikonenverehrung in Ortlund, der euch auf eine aufschlussreiche Reise in die Vergangenheit mitnimmt). Das heisst doch aber, dass diese Lehren 'neu(er)' sind. Wenn wir Evangelikalen die marianische Himmelfahrt ablehnen, sind wir nicht modern verblendet, sondern umso geschichtlicher unterwegs. Paulus, Irenäus und Augustinus glaubten auch nicht an eine solche Himmelfahrt! Die marianische Himmelfahrt gleicht für uns einer theologischen Achterbahnfahrt, einem theologischen Argument, das wir so von der Bibel (und dem kirchlichen Zeugnis über lange Strecken) her nicht vertreten können.


Damit zurück zum Problem: '(Theologische) Fehler können zum Mainstream werden.' (S. 153) Und das wahre Problem, wenn solche Lehren zu Dogmen gemacht werden ist, dass sie folglich für alle Zeit dingfest werden. Da kann später nicht einfach einer kommen und daran rütteln. So gesehen sind die institutionellen Kirchen nicht wirklich flexibel, sich auf der Grundlage der Schrift zu reformieren. Nur der protestantisch-evangelikale Impuls ist in der Lage, solch angehäufte Dogmen (auch die eigenen, nicht nur die der anderen) zu hinterfragen und gegebenenfalls ad acta zu legen, um die Kirche gemäss des biblischen Zeugnisses zu erneuern.


Ich möchte das mit diesem Bild veranschaulichen. Die Lehre der Kirche ist wie ein Baum, der auf der Grundlage der Bibel wächst, indem er sich von ihr nährt. Nun hat die Kirche über die Zeit weitere, artenfremde Zweige in diesen Baum eingepfropft, Zweige, die ihrerseits ihre Blüten trieben, sich verästelten und den Baum in die Breite wachsen liessen. Protestanten wollen zurück zum 'historischen', zum echten Baum und darum schneiden sie diese Zweige ab. Die römisch-katholische Kirche lässt diese Zweige dran, ja, sieht sie zum Teil als den wahren Baum. Das heisst nicht, dass der ursprüngliche, echte Baum bei ihnen nicht noch da wäre. Doch manchmal muss man sich schon recht an den Verästelungen vorbeikrümmen, um den Stamm sehen zu können.


  • Prinzip 4: Eine Erneuerung der Kirche kann nur durch die beiden Prinzipien sola fide und sola Scriptura stattfinden

Für Philipp Schaff liegt der Kern der protestantischen Identität in zwei Aussagen: Der Rechtfertigung durch Glauben allein (sola fide) und die Heilige Schrift ist die einzige unfehlbare Regel für den Glauben und die Praktiken der Kirche (sola Scriptura). (S. 11)

Diese beiden Punkte waren nicht das Einzige, wofür die Reformatoren am Morgen früh aufgestanden sind, aber sie 'waren das Nervenzentrum dessen, was die protestantische Bewegung belebte, ihr Form und positive Energie gab.' (S. 11) Manchmal spricht man hier vom materiellen, inhaltlichen Prinzip - sola fide - das, was unseren Glauben ausmacht - und dem formellen Prinzip (sola Scriptura), das WIE, wie wir den Inhalt unseres Glaubens festmachen können.


Über sola fide müsste man einen eigenen Blogartikel schreiben. Es genügt hier zu sagen, dass es um das Eingemachte, um das Evangelium geht. Sind wir nun allein durch Gnade, durch den Glauben an Jesus Christus gerettet, oder reicht das nur für den Einstieg in das christliche Leben, wogegen wir dann durch unsere Werke 'beweisen' müssen, dass wir der Gnade würdig sind (very grob die römisch-katholische Position skizziert)? Auch wenn die Sache kompliziert ist, steht für mich eines fest: In diesem Punkt haben wir noch keine Einheit mit unseren römisch-katholischen Verwandten erreicht. Und wenn ich es so frech sagen darf: Das Evangelium ist in der römischen Kirche schon noch da, aber es leuchtet manchmal nur noch schwach hinter all dem Gerät, das davorsteht (und wenn wir selber in den Spiegel schauen, stellen wir manchmal mit Schrecken fest, dass die Sache in unseren evangelikalen Gemeinden manchmal nicht besser ist). Klar ist für mich, dass es um den Kern des christlichen Glaubens geht, der zur Debatte steht. Ich weiss, dass wir mit den Katholiken ansonsten entscheidend Wichtiges gemeinsam haben: Sexualethik, Menschenbild, Gotteslehre usw.. Doch dieser Punkt - sola fide - wäre für mich einer der entscheidenden Gründe, nicht den Raum zu wechseln - von evangelikal-protestantisch zu katholisch - weil ich fest davon überzeugt bin, dass die Reformation in diesem Punkt gerechtfertigt war. Ortlund beschreibt es so:

Der große, strahlende Glanz des Protestantismus ist seine radikale Konzentration auf die Einfachheit des Evangeliums. Der Protestantismus fokussiert sich auf die Allgenügsamkeit der Person und des Werkes Christi. Die nicht-protestantischen Traditionen mögen diesen Wert grundsätzlich teilen. Wir befürchten jedoch, dass sie dem Evangelium versehentlich Anforderungen hinzugefügt haben, die Christus selbst nicht verlangt hätte ... Obwohl wir die Kernbotschaft des Evangeliums mit vielen Traditionen außerhalb des Protestantismus teilen können, haben bestimmte ihrer Praktiken und Glaubenssätze den unglücklichen Effekt, diese Kernbotschaft sowohl zu verwischen als auch ihr etwas hinzuzufügen. Der Protestantismus sieht das Evangelium zentral und klar. Das Ergebnis ist Klarheit und Gewissheit. (S. 221-22)

Beim formalen Prinzip, sola Scriptura, geht es letztlich um die Frage nach dem Locus der Autorität. Auch dieser Punkt ist zentral und offenbart, wie gross der Graben zwischen den verschiedenen Traditionen noch ist. Wie oben diskutiert, spielt die Tradition für die römisch-katholische Kirche eine normative Rolle, so dass Lehren dogmatisiert werden, die Protestanten aufgrund der Bibel allein revidieren würden. Hinzu kommt noch, dass Tradition fest in den Händen der KIRCHE ist, weil letztlich das Lehramt der Kirche (unter dem Papst) bestimmt, was normative Tradition ist. Protestantische Evangelikale sehen die Bibel allein als ihre Autorität, weil sie glauben, dass Jesus Christus dort spricht. Gewiss muss die Bibel ausgelegt werden und dabei entstehen Traditionen. Für uns müssen diese Traditionen jedoch immer wieder an der Schrift geprüft werden. Dieser Unterschied in der formellen Struktur und Theologie in der Frage, wer oder was Autorität ausübt, macht eine tiefere Einheit unter den christlichen Traditionen unmöglich. [5]


Schlusswort: Eine tiefere Einheit kann nicht auf der Grundlage einer exklusivistischen Ekklesiologie erreicht werden

Wir haben den Hauptteil dieses Artikels mit diesem Zitat von Ortlund gestartet:

Protestantism is actually the tradition best positioned to retain and cultivate catholicity (that is, the wholeness of the church throughout space and time). (S. 4)

Warum ist die protestantisch-evangelikale Tradition nun am besten dafür geeignet, die universelle Kirche zu erneuern, um dadurch eine tiefere Einheit anzustreben? Ich habe mit Gavin Ortlund zusammen argumentiert, dass die protestantische Tradition historisch am weitesten zurückgeht und durch diese Anbindung an die Neutestamentliche- und frühe Kirche auf dem 'Boden der Katholizität' steht. Sie ruft die anderen Traditionen (sich selbst inkludiert) auf dieses Feld zurück, von dem aus wir alle gestartet sind. Dieses Feld ist unsere gemeinsame Basis, von der aus eine tiefere Einheit möglich wäre.


Müssen die anderen also auf ihre Traditionen verzichten, damit Einheit möglich wird? Anders gefragt, wie inklusiv ist die protestantisch-evangelikale Tradition gegenüber den anderen Traditionen? Die Frage ist nicht so leicht zu beantworten. Natürlich stehen wir evangelikalen Protestanten gewissen Traditionen kritisch gegenüber (wie zum Beispiel der Mariologie der katholischen Kirche oder der Sakramentslehre), weil sie das biblische Evangelium verdunkeln. Es geht nicht, einfach zu sagen, dass alles easy ist, solange man in anderen Themen (Sexualethik, Menschenbild usw.) das Heu ja schon auf der gleichen Bühne habe. Trotzdem argumentiere ich, dass die protestantische Tradition inklusiv(er) ist, weil sie die 'wahre Kirche' überall dort erkennt, wo sie sich manifestiert (dort, wo das gemeinsame Feld noch da ist, egal wie überwachsen es ist) - und zwar unabhängig von der Institution in der sich diese 'wahre Kirche' zeigt. Drehen wir den Spiess einmal um: Sowohl die römisch-katholische Kirche als auch die orthodoxe Kirche operieren mit einer exklusivistischen Ekklesiologie. Das heisst, für beide Traditionen ist klar, dass das Heil nur innerhalb ihrer kirchlichen Institution in Fülle zu finden ist. Beide fordern im Prinzip, dass ich römisch-katholisch oder orthodox werden muss, um ein wahrer Christ sein zu können. Dieser Exklusivismus macht eine Einheit geradezu unmöglich. Protestanten dagegen können sagen, dass jeder ein Christ ist, der sich zu Jesus Christus bekennt und seine Gebote und sein Wort beherzigt, egal welcher Kirche man angehört. Ich schliesse mich dem Votum von Ortlund an:

Da der Protestantismus nicht den Anspruch erhebt, die „einzig wahre Kirche“ zu sein, sondern sich als Erneuerungsbewegung innerhalb der Kirche versteht, ist er bereit, die wahre Kirche dort zu erkennen, wo Christus in Wort und Sakrament gegenwärtig ist. Daher bietet der Protestantismus für Christen, die die Kirche in ihrer Fülle erkennen wollen, den vielversprechendsten Weg, Katholizität zu pflegen und zu leben. (S. 37) [6]

ree

[1] Für einige prominente Beispiel siehe Ortlund, Theological Retrieval for Evangelicals, Einleitungskapitel.


[2] Vgl. die top Diskussion dazu in Haykin und Stewart, The Emergence of Evangelicalism: Exploring Historical Continuities. Diskontinuität zwischen protestantisch und evangelikal sehe ich vor allem in der Ekklesiologie.


[3] Philip Schaff wird mit der Mercersburg Theologie in Verbindung gebracht.


[4] Das Thema retrieval, also eine Wiedergewinnung oder eine Rückbesinnung auf die Geschichte der Kirche, die geschichtliche Entwicklung der christlichen Lehre, ist etwas, das in Amerika (unter den Evangelikalen) stärker als bei uns betrieben wird. Ich orientiere mich neben Gavin Ortlund z.B. an Credo.


[5] Sola Scriptura ist ein recht umkämpftes Thema, dem ich bald einen eigenen Beitrag widmen werde.


[6] Die Frage nach der wahren Kirche wäre auch wieder ein eigener Blogbeitrag. Was mir hier wichtig zu betonen ist, dass protestantisch-Evangelikale die Kirche nicht primär als hierarchische Institution definieren (Kirche ist nur dort, wo der Papst an der Spitze steht und dort, wo er die Bischöfe einsetzt), sondern eher inhaltlich-materiell: Kirche ist dort, wo das Evangelium 'rein' verkündet und die Sakramente 'biblisch' (im Zusammenhang mit dem Evangelium) verwaltet werden.


Kommentare


©2021 mindmatt. erstellt mit wix.com

bottom of page