Sola Scriptura - Bibel und Tradition. Oder warum Protestanten am Besten dafür ausgestattet sind, den biblischen Glauben über die Zeit zu bewahren.
- matt studer
- 4. Nov.
- 15 Min. Lesezeit
Desgleichen ist in der katholischen Kirche selbst entschieden dafür Sorge zu tragen, daß wir das festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde; denn das ist im wahren und eigentlichen Sinne katholisch. Darauf weist schon die Bedeutung und der Sinn des Wortes hin, das alles in der Gesamtheit umfaßt. Dies wird aber nur dann geschehen, wenn wir der Allgemeinheit, dem Altertum und der Einstimmigkeit folgen; der Allgemeinheit aber werden wir folgen, wenn wir den Glauben allein als den wahren bekennen, den die gesamte Kirche auf dem Erdkreise bekennt; dem Altertum aber dann, wenn wir von den Anschauungen in keiner Weise abgehen, denen anerkanntermaßen unsere heiligen Vorfahren und Väter allgemein gehuldigt haben; der Einstimmigkeit dann, wenn wir innerhalb des Altertums selbst uns den Entscheidungen und Aussprüchen aller oder fast aller Priester und Lehrer anschließen. (Vinzenz von Lérins, Commonitorium II)
Protestants admit that ... there has been a stream of traditionary teaching flowing through the Christian Church from the day of Pentecost to the present time. This tradition is so far a rule of faith that nothing contrary to it can be true. Christians do not stand isolated, each holding his own creed. They constitute one body, having one common creed. (Charles Hodge, Systematic Theology, I:113)
The debate today is too often framed in terms of Scripture vs. tradition, when the real question is Scripture and which concept of tradition. (Keith Mathison, The Shape of Sola Scriptura, S. 255)
Ich habe in meinem letzten Artikel postuliert, dass der protestantisch-evangelikale [1] Glaube dem biblisch-historischen Christentum am Nächsten kommt. So kontrovers das für manche tönen mag, möchte ich hier nochmals Öl ins Feuer giessen. Auch weil ich Sola Scriptura im erwähnten Artikel nur streifen konnte. Dieses reformatorische Sola Scriptura (die Schrift allein) gehört heute wohl zu den missverstandensten Slogans der Reformation. Doch war es ein wichtiges Sola. Und, wenn wir es richtig wiederbeleben, könnte es ein wichtiger Stützpfeiler im protestantisch-evangelikalen Glaubensgebäude von heute sein.
Der Vorwurf an das Sola Scriptura von römisch-katholischer (und orthodoxer) Seite her lautet so: Hat dieses Prinzip, die Bibel allein, nicht dazu geführt, dass der Protestantismus keine Theologie, sondern ein Chaos an diversesten Theologien hervorgebracht hat? Denn wenn jeder und jede die Bibel auslegt, ohne jegliche Hilfe der kirchlichen Tradition oder des kirchlichen Lehramtes, kann es ja nur logisch sein, dass wir am Ende genau so viele Theologien wie Auslegerinnen haben. Es fehlt eine Autorität, die das ganze Projekt zusammenhalten könnte. Ja, das stimmt! Nur, so haben die Reformatoren selbst und die protestantische Tradition Sola Scriptura nie verstanden. Leider verstehen Evangelikale das Prinzip heute vorwiegend so: Ich und meine Bibel allein reichen völlig aus, um die Geheimnisse Gottes in ihrer Fülle und Tiefe zu verstehen. Weg mit allen Traditionen, weg mit alten Zöpfen. Ihr kennt dieses Spiel: 'Wenn ich auf eine Insel ins Exil müsste und nur einen Gegenstand mitnehmen dürfte, was für ein Gegenstand wäre das?' Die implizierte Antwort lautet: 'Allein die Bibel.' Aber das ist nicht Sola Scriptura, sondern Solo Scriptura.
Um das richtige Sola Scriptura für uns zurückzugewinnen, müssen wir zunächst etwas im historischen Boden buddeln und fragen, welches Verständnis die frühe Kirche von der Autorität der Bibel und der Bedeutung der Tradition hatte, bevor wir die Position der Reformatoren genauer untersuchen. Wir müssen auch nachvollziehen, gegen was sich das reformatorische Sola Scriptura richtete, nämlich gegen das römisch-katholische Verständnis von Tradition als auf derselben Stufe wie die Schrift stehend. Erst danach und nur mit einer gehörigen Prise Selbstkritik werden wir in der Lage sein zu evaluieren, ob nun Protestanten oder Katholiken besser aufgestellt sind, den biblischen Glauben über die Zeit zu bewahren. Doch bevor wir Kirchengeschichte betreiben, lohnt es sich, kurz in die Bibel selbst hineinzublicken. Schliesslich ist es doch die Bibel, die für uns die höchste Autorität darstellt.

Ist Sola Scriptura in der Bibel?
Ein häufiges Argument gegen Sola Scriptura ist, dass Sola Scriptura in der Bibel nicht vorkommt. Wieder richtig, in diesem qualifizierten Sinn: Sola Scriptura kommt nicht als ausgearbeitetes Konzept oder pfannenfertige Theologie in der Bibel vor. Doch hier das Aber: Das Sola Scriptura kann 'durch gute und notwendige Schlussfolgerungen aus der Schrift hergeleitet werden' (Westminster Bekenntnis, Artikel 1.6). Evangelikale glauben, dass die Bibel Gottes Wort ist, dass der Heilige Geist hier in und durch die menschlichen Worte zu uns spricht. Daher leitet sich der Autoritätsanspruch her. Wenn es Gott ist, der hier spricht, dann ist das etwas anderes, als wenn ein noch so heiliges Gremium von Kirchenführern ein paar sehr gute Ideen entwickelt (dazu gleich später). Und so war es für Jesus klipp und klar, dass Gottes Wort (in diesem Fall das Alte Testament) auf einer ganz anderen Stufe als die Traditionen der Menschen stand.
[Euer] ganzer Gottesdienst ist wertlos, denn [eure] Lehren sind nichts als Gebote von Menschen ... So ist es: Ihr lasst Gottes Gebot außer Acht und haltet euch stattdessen an menschliche Vorschriften. (Markus 7,7)
Was war das Problem? Die jüdischen Gesetzeslehrer entwickelten ihren eigenen Kanon an Auslegungen und Anwendungen der mosaischen Thora. So entstanden mit der Zeit immer mehr neue 'menschliche Vorschriften', die sie für das Volk bindend machten. So sagte auch Paulus: 'Ich war ein besonders leidenschaftlicher Verfechter der ´religiösen` Überlieferungen meiner Vorfahren.' (Galater 1,14) Mit der Betonung auf war, denn dann wurde Paulus mit der guten Nachricht bekannt gemacht. Um nicht missverstanden zu werden: Paulus war nicht gegen alle Überlieferungen seiner Vorfahren. Das sogenannt Alte Testament, die 'Gebote Gottes' war für ihn von Gott inspiriert (2. Tim. 3,16). Was wir hier festhalten ist, dass Jesus und Paulus zwischen der 'kanonischen Tradition' des Alten Testaments als inspiriertem Gotteswort und den 'menschlichen Traditionen', die sich zusätzlich zum Wort Gottes etablierten, unterschieden. Das gibt uns zumindest einmal ein grobes Raster, um biblisch über Sola Scriptura nachzudenken.
Die Bibel, oder das Neue Testament hat daneben auch noch eine andere Kategorie von Tradition, nämlich die der apostolischen Tradition, der apostolischen Botschaft, die zu Beginn mündlich, dann aber auch schriftlich weitergegeben wurde. Diese Tradition wird positiv konnotiert:
Also nun, Brüder, steht fest und haltet die Überlieferungen, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch Worte oder durch unseren Brief. (2. Thessalonicher 2,15)
Diese Aussage ist gerade darum erhellend, weil Paulus im zweiten Thessalonischerbrief neuere, systemfeindliche Lehren kritisiert, die nichts mit der apostolischen Lehre zu tun haben (wie, dass der Tag des Herrn bereits gekommen sei). Dabei bezieht er sich auf das, was er den lieben Thessalonichern schon direkt und mündlich berichtet hatte (vgl. Vers 2,5). Diese apostolische Botschaft ist letztlich nichts anderes als die Entfaltung der Lehre oder der Worte Jesu Christi selbst, an die der Heilige Geist seine Apostel erinnern würde (vgl. Joh. 14,26). Und auch der letzte Apostel, unser Paulus, hatte seine Lehre nicht selbst erfunden: 'Denn ich habe euch vor allem überliefert, was ich auch empfangen habe.' (1. Korinther 15,3) Es gab zu Beginn der Kirche also sowohl eine mündliche und mit der Zeit schriftliche apostolische Tradition, die dann - so mein Argument - als Neues Testament gebündelt wurde.
Nun lautet ein häufiger Vorwurf der Gegner hier, dass Sola Scriptura ein ausserbiblisches Konzept sei. Die Bibel selbst kann unmöglich Sola Scriptura behaupten, da der Kanon ja überhaupt erst noch im Werden war. Es gab noch gar keine fertige Scriptura damals, als die Apostel durchs Land zogen. Bis es soweit war, kursierte die apostolische Tradition als autoritative Quelle des christlichen Glaubens von Mund zu Mund. Aber, ist nicht die orale Tradition Jesu und der Apostel inhaltlich deckungsgleich mit dem Neuen Testament? Ich gehe hier von einer Quelle aus: Die apostolische Botschaft wurde mündlich überliefert, bis das Neue Testament als definitiver Kanon feststand. Die Verschriftlichung der Worte Jesu und der Apostel war wichtig, damit sie sich nicht über die Zeit verflüchtigen (vgl. Lukas 1,1-4). Wir sagen ja, wir halten etwas 'schriftlich fest', damit es nicht davon flattert. Nach dieser Verschriftlichung gab es aber auch nicht plötzlich neue Lehren, die als neue Offenbarungen Gottes zum Kanon addiert werden sollten. Das sagt ja auch die römisch-katholische Kirche: 'Vor der glorreichen Manifestation unseres Herrn Jesus Christus ist keine neue öffentliche Offenbarung zu erwarten.' (siehe Dei Verbum, 4) Es gibt also eine Quelle der apostolischen Tradition, den Kanon der Bibel.
Ist das Sola Scriptura also biblisch? In der Tat. In der Bibel haben wir die massgebliche Richtschnur unseres Glaubens, die Worte Jesu, die gute Nachricht, die selbst Paulus von 'oben' empfing. In der Bibel bekommen wir alles Nötige, was wir für unser christliches Menü brauchen (2. Tim. 3,16). Gewiss essen wir das Mahl nicht alleine. Genau hier kommt die 'menschliche' Tradition, die Auslegung der Kirche mit ins Spiel.

Sola Scriptura in der frühen Kirche und spätere Weiterentwicklungen
Glaubten die Kirchenväter an das Sola Scriptura, also daran, dass die Bibel die oberste Richtschnur des christlichen Glaubens ist, an der alles andere gemessen wird (soweit mal unsere Definition von Sola Scriptura, dass die Bibel die Norm ist, an der wir alle anderen Normen messen)? Oder fanden sie neben der Schrift noch eine zweite Quelle vor, durch die weitere apostolische Traditionen neben der Schrift mündlich überliefert wurden? Das nämlich ist es, was die römisch-katholische Kirche postuliert: Nicht eine, sondern zwei ebenbürtige Quellen, die uns mit allem Frischwasser versorgen, das wir benötigen, um Gott richtig zu verstehen und den christlichen Glauben richtig zu leben. Gemäss dem römisch-katholischen Verständnisses reicht die Schrift allein eben nicht aus, sondern sie muss durch die Quelle der mündlich überlieferten Tradition ergänzt werden. So formulierte es das Trienter Konzil damals:
Das heilige, ökumenische und allgemeine Konzil von Trient ... erkennt auch klar, dass diese Wahrheiten [des Evangeliums] und Regeln in den geschriebenen Büchern und in den ungeschriebenen Traditionen enthalten sind, die von den Aposteln aus dem Munde Christi selbst empfangen wurden ... und sozusagen von Hand zu Hand bis zu uns weitergegeben wurden. (Keith Mathison, Shape of Sola Scriptura, übersetzt aus dem Englischen, Hervorhebung von mir).
Um es vorwegzunehmen, Sola Scriptura war nicht ein Problem der frühen Kirche, so wie es ein Hauptthema der Reformation war. Aus diesem Grund finden wir (leider) auch keine systematische Reflexion mit zehn Unterpunkten bei den Kirchenvätern. Was ich dennoch zeigen möchte ist, dass die frühe Kirche die alleinige Autorität der Schrift bezeugte. Dazu nehmen wir nur ein Beispiel, nämlich Cyrill von Jerusalem, 347-350 n. Chr.: [2]
Wenn es sich nämlich um die göttlichen, heiligen Geheimnisse des Glaubens handelt, darf absolut nichts ohne göttliche Schrift vorgetragen werden. Auch darf man sich durchaus nicht von verführerischen Reden oder durch Wortmacherei verleiten lassen. Du darfst auch meinen Worten nur dann glauben, wenn dir die göttlichen Schriften den Beweis für meine Erklärungen geben. Soll unser Glaube das Heil bringen, dann stützt er sich nicht auf ersonnene Gründe, sondern auf den Beweis aus den göttlichen Schriften. (Katechetische Texte, IV:17)
Weiter argumentiere ich, dass die Kirchenväter keine Zwei-Quellen-Theorie vertraten, sondern dass die apostolische Tradition, wie sie früh in der Glaubensregel (Regula Fidei) zusammengefasst wurde, mit dem Neutestamentlichen Zeugnis identisch war (also eine Quelle bildete). Gerade weil die Häretiker auch mit der Bibel argumentierten, war es für die Väter entscheidend, eine verlässliche 'Zusammenfassung' des Evangeliums parat zu haben, die als hermeneutischer Schlüssel diente, die Bibel richtig zu lesen. Die Regula Fidei war in dem Sinne keine neue Tradition. Sie stand für die Väter im Einklang mit dem roten Faden der biblischen Heilsgeschichte. Basilius brachte dies so zum Ausdruck (370-375 n. Chr.):
Aber wir stützen uns nicht nur auf die Tatsache, dass dies die Tradition der Väter ist; denn auch sie folgten dem Sinn der Schrift und gingen von den Beweisen aus, die ich vor einigen Sätzen aus der Schrift abgeleitet und Ihnen dargelegt habe. (De Spiritu Sancti, 7.16, Übersetzung aus dem Englischen, Hervorhebung von mir)
Wir haben hier nicht die Musse auf jede wichtige Stimme einzugehen. Augustinus wäre genauer zu betrachten. Auch er schreibt im Einklang mit den Vätern:
Lasst uns nicht hören: Das sage ich, das sagst du; sondern: So spricht der Herr. Gewiss sind es die Bücher des Herrn, über deren Autorität wir uns beide einig sind und an die wir beide glauben ... Lasst uns all das aus unserer Mitte entfernen, was wir gegeneinander zitieren, nicht aus den göttlichen kanonischen Büchern, sondern aus anderen Quellen. (The Unity of the Church, 3, übersetzt aus dem Englischen)
Auf der anderen Seite könnte Augustinus, je nach Interpretation, auch stellvertretend die Türe für eine zwei-Quellen-Theorie geöffnet haben. Anderswo schrieb er folgendes: 'Es gibt viele Dinge, die von der gesamten Kirche beachtet werden und daher mit Fug und Recht als von den Aposteln geschätzt wurden, die jedoch in ihren Schriften nicht erwähnt werden.' (On Baptism, IV:24, übersetzt aus dem Englischen, Hervorhebung von mir). Später wurde Augustinus jedenfalls so interpretiert, dass er hier eine orale Tradition voraussetzte, die nicht im Neuen Testament verschriftlich wurde, aber durch Sukzession der Apostel mündlich weitergetragen wurde. Wir werden uns weiter unten dazu ein paar Beispiele gönnen, die gemäss römisch-katholischer Kirche in diese Kategorie gehören.
Obwohl die Kirchengeschichte keine aufgeräumte systematisch-theologische Box ist und es solche Aussagen wie die von Augustinus zu verdauen gibt, [3] scheint mir die Tendenz der frühen Kirche bis ins Mittelalter hinein doch klar in die Richtung zu gehen, dass für die Väter die Bibel die alleinige Autorität darstellte und kein anderer Strom von apostolischer Tradition fliesst, der auf der gleichen Stufe zu berücksichtigen wäre. Traditionen wie die Regula Fidei oder die Bekenntnisse sind wichtig und essentiell, aber nicht weil sie eine zusätzliche Lehre zur Bibel entfalten würden, sondern weil sie diese Lehre kompakt und akkurat zusammenfassen.
Selbst eminente Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin stimmen mit dieser Position überein. Thomas schreibt:
Denn unser Glaube stützt sich auf die Offenbarung, welche den Aposteln und den Propheten geworden; — und nicht auf etwaige andere Offenbarungen, welche einzelne Lehrer der Kirche erhalten hätten. [Dann zitiert er Augustinus] „Nur jenen Schriften habe ich gelernt, volle und geminderte Ehrfurcht zu erweisen, welche kanonische genannt werden. (Summe der Theologie, Quaestio 1, Achter Artikel)
Wie die zwei-Quellen-Theorie festen dogmatischen Fuss fassen konnte, da sie bis dahin höchstens angedeutet wurde, ist eine andere, komplizierte Geschichte, hat sie doch mit Kirchenpolitik und einem Streit zwischen den Franziskanern und dem Papst zu tun. Es scheint so, dass der mittelalterliche franziskanische Theologe William von Ockham seine Finger mit im Spiel hatte (siehe seine Schrift Dialogus). Ironischerweise war der Papst zu dieser Zeit ein Verfechter der ein-Quellen-Theorie (vs. Ockham). Brian Tierney formuliert:
Die Behauptung, dass sowohl die Kirche als auch die Heilige Schrift eine gewisse Orientierung für die Glaubenswahrheiten boten, war im Fall der Michaelisten gegen Papst Johannes XXII (der konsequent bekräftigte, dass allein die Heilige Schrift die Quelle unveränderlicher Glaubensartikel sei) von besonderer Bedeutung gewesen. (zitiert in Mathisons, S. 79, Hervorhebung von mir) [4]

Sola Scriptura in der Reformation und die Antwort der römischen Kirche
Das zwei-Quellen-Verständis der römisch-katholischen Kirche führte im Spätmittelalter zur Autorisierung solch kirchlicher Lehren wie dem Ablasshandel, der zu Zeiten Luthers Hochkonjunktur hatte. Für Luther war klar, dass diese 'Tradition' nicht mit dem biblischen Zeugnis übereinstimmt und folglich auch wieder abgeschafft werden muss. Doch Luther hatte keinen einfachen Stand. Die römische Kirche war fest davon überzeugt, dass ihre Traditionen, durch den Papst und das kirchliche Lehramt sanktioniert, eine universelle Gültigkeit haben. Das Ganze lief letztlich auf ein 'Autoritätsproblem' hinaus. Denn die zwei-Quellen-Theorie hatte zur Folge, dass sich der Locus der Autorität von der Schrift (Sola Scriptura) zur Kirche hin verschob. Nun war es die Kirche (Lehramt und Papst), die bestimmte, welche Lehre der autoritativen apostolischen Tradition zugerechnet werden sollte.
Dagegen zetterte Martin Luther mit lauter Stimme: Allein die Schrift ist in der Lage, den christlichen Glauben zu begründen und alle Lehren und Traditionen - und seien sie vom Papst selbst - müssen sich an der Schrift messen oder ad acta gelegt werden. In diesem Sinne müssen wir Luthers Antwort vor dem Reichstag in Worms einordnen:
Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen! [5]
Doch jetzt aufgepasst, Luther war kein Antitraditionalist. Wir müssen den ganzen Luther lesen. Wenn Luther im grossen Katechismus die Frage bespricht, wie der Heilige Geist in den Gläubigen wirkt, lautet seine Antwort folgendermassen:
Aber wodurch erreicht er [der Heilige Geist] dies [mich heilig zu machen] ...? Antwort: Durch die christliche Kirche ... Denn erstens hat er eine besondere Gemeinde in der Welt, die die Mutter ist, die jeden Christen durch das Wort Gottes zeugt und gebärt.
Wenn wir das lesen stellen wir fest, dass wir Evangelikalen in diesem Punkt gar nicht so reformiert, sondern viel individualistischer sind. Die Kirche und die kirchlich-traditionelle Auslegung (die kirchliche Predigt und Lehre) hatte für Luther sehr wohl eine Bewandtnis. Warum? Weil die Kirche die biblische Botschaft über die Zeit bewahrt. Die Kirche ist die Säule der Wahrheit (1. Tim. 3,15), nicht weil sie die Wahrheit selbst hervorbringen würde, sondern weil sie die Wahrheit der Worte Jesu und der Apostel kultiviert, lehrt, predigt, kontextualisiert. Auch ein Koloss wie Luther wäre allein nie in der Lage gewesen, den christlichen Glauben zu formulieren. Er wurde im Schoss der Kirche grossgezogen, ohne die er erst gar nie von Gott gehört hätte. Und er stand auf den Schultern derer, die ihm vorausgegangen sind (und darum bekennt er sich auch fröhlich zu den frühkirchlichen Konzilsbeschlüssen zur Trintität und Christologie ). Das Problem für Luther war nicht, dass er der Kirche grundsätzlich in allem misstraute und er glaubte, seinen eigenen Weg nur jenseits jeder christlichen Institution finden zu müssen. Sein Schuh drückte, weil die Kirche seiner Zeit die biblische (und über weite Strecken historisch bezeugte) Wahrheit in ganz zentralen Punkten mit neueren, menschlichen Traditionen überschrieben hatte. Jean Calvin in Genf sah das ganz ähnlich (vgl. dazu auch schon meinen vorausgehenden Blogbeitrag):
Nun findet man vom Fegefeuer, von der Fürbitte der Heiligen, von der Ohrenbeichte und dergleichen in der Schrift nicht eine einzige Silbe. (Institutiones, IV,9,14)
Der hier ist auch gut:
Selbst wenn es keine Geschichtsbücher gäbe, so würden verständige Leute doch aus den Tatsachen selbst heraus zu dem Urteil gelangen, daß ein so großer Haufen von Zeremonien und Gebräuchen nicht auf einmal in der Kirche eingerissen ist, sondern sich nach und nach eingeschlichen hat. (IV,10,18, Hervorhebung von mir)
Wie reagierte Rom auf das reformatorische Sola Scriptura? Mit Nachdruck. Wir haben die Formulierung des Konzils von Trient oben schon zitiert. Die Kirche in Rom dogmatisierte die zwei-Quellen-Theorie und konnte somit für uns Protestanten ausserbiblische Lehren als verbindliches Dogma festschreiben. Calvin nannte oben schon die Fegefeuer-Lehre oder das Gebet für die Toten. Dabei gehen diese Lehren gemäss katholischer Lesart auf die mündliche apostolische Überlieferung zurück, die genauso alt und normativ sei wie die Bibel selbst. Rom beruft sich dabei gerne auf Vinzenz von Lérins Satz 'Wir halten fest an dem, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde' (Commonitorium, cap. 2, 3; PL 50, 640). Nur, wurden diese und andere Dinge tatsächlich schon immer und auch überall geglaubt? Das ist eine starke Behauptung, die historischen geprüft werden will. Dies fängt schon damit an, dass man in der Schrift 'keine Silbe davon findet', wie Calvin bemerkt hat. Auch bei den Kirchenvätern finden sich, wenn dann, nur spärliche Spuren solcher Lehren. Ja, gerade das römisch-katholische Dogma, dass Schrift und Tradition auf derselben Stufe stehen, ist keine Lehre, die immer und überall geglaubt wurde, wie wir gesehen haben.
Wie denkt die römisch-katholische Kirche heute? Mit den Beiträgen von Henry Newman (An Essay on the Development of Christian Doctrine) und Matthias Joseph Scheeben im 19. Jahrhundert wurde stärker eine 'organische' Weiterentwicklung der kirchlichen Lehre betont. Dogma ist nicht etwas Statisches, sondern etwas, das sich über die Zeit entfalte. Demzufolge überrascht es eigentlich nicht, dass gerade im 19. Jahrhundert zwei neuere Lehren zum katholischen Dogma erhoben wurden: Die unbefleckte Empfängnis Marias (1854) sowie die Unfehlbarkeit des Papstes ex cathedra (1. Vatikanisches Konzil 1870). Im 20. Jahrhundert folgte dann die Himmelfahrt Marias (1950). Es scheint so zu sein, dass unter dem 'Deckmantel' der organischen Weiterentwicklung der christlichen Lehre so manch Neues möglich wird. Es ist dann auch nicht so ein Problem, wenn solche Lehren im Widerspruch zur Schrift stehen, weil es ja die Autorität Kirche (Sola Ecclesia?) ist, die sie beglaubigt. [6]

Wer bewahrt den biblischen Glauben über die Zeit besser?
Kommen wir zum Schlussplädoyer, in dem ich nochmals demonstrieren möchte, dass das Sola Scriptura der Reformation uns heute am meisten weiterhilft. Bei Sola Scriptura ist es klar, wohin ich gehe, wenn ich Wegweisung für mein christliches Denken, Glauben und Handeln brauche. Ich gehe zur Schrift, ich sitze unter ihr, weil es Gott ist, der hier zu mir spricht. Das Wort Gottes bringt die Kirche hervor und nicht umgekehrt (vgl. Calvin, Institutiones, I,7,1 und 2). Die Kirche hat ihre Auslegungen und Traditionen immer wieder an das Licht der Schrift zu halten (Ecclesia Semper Reformanda). Protestanten lehnen darum das römisch-katholische Dogma ab, dass die Kirche die alleinige massgebende Richterin der rechten Lehre ist. Vielmehr erkennen Protestanten ein Problem darin, dass Rom 'menschliche' Traditionen über oder gegen die Schrift hinzugefügt hat und sich der christliche Glaube in wichtigen Punkten dadurch vom originalen biblischen Glauben entfernt hat (was nicht heissen soll, dass Katholiken keine Christen mehr sind, bewahre!)
Auf der anderen Seite ist nicht der heutige Ausleger seine eigene und einzige Autorität. Er oder sie ist ein Kind der Kirche und nicht autonom. Bedenken wir: Die Bibel wird seit zweitausend Jahren ausgelegt. Es gab wichtige Konzile und Bekenntnisse der Kirche, die wir besser auch heute noch berücksichtigen, um auf dem graden, 'bibeltreuen' Weg zu bleiben. Was ich euch bis jetzt vorenthalten habe ist, dass die Reformatoren auf zwei Seiten kämpften. Auf der einen Seite stand der römisch-katholische Traditionalismus, auf der anderen das individualistische Schwärmertum der sogenannt radikalen Reformation. Die Schwärmer sahen jegliche Tradition als überflüssig, ja störend an, glaubten sie doch, dass der Heilige Geist sie mit (und manchmal auch ohne) Schrift in die Wahrheit führen, ja dass der Geist ihnen auch neue, aktualisierte Offenbarungen direkt übermitteln würde.
Ihnen gegenüber betonten Calvin und Luther, wie wichtig es sei, sich mit der christlichen Tradition auseinanderzusetzen und sie nicht a priori abzulehnen. Sola Scriptura ist nicht gleichzusetzen mit Solo Scriptura, und wir Evangelikalen tun gut daran auf unsere und insgesamt auf den Strom der kirchlichen Tradition zu hören, auch wenn wir diesen Strom nicht einfach unreflektiert (ungeprüft) übernehmen. Ich schliesse mit zwei Statements des Westminster Bekenntnisses, die beide Realitäten des Sola Scriptura schön in Worte fassen.
Der oberste Richter, durch den alle Kontroversen der Religion und alle Konzilsbeschlüsse, Meinungen alter Schriftsteller, Lehren von Menschen und privaten Meinungen entschieden werden müssen und in dessen Urteil wir ruhen müssen, kann kein anderer sein als der Heilige Geist, der in der Schrift spricht. (1.10)
Den Synoden und Konzilen [der Kirche] obliegt der Dienst, Streitfragen des Glaubens und Gewissensfragen zu entscheiden ... Dies nicht nur wegen ihrer Übereinstimmung mit dem Wort, sondern auch wegen der Vollmacht, die ihnen als eine Anordnung Gottes durch sein Wort gegeben ist. (31.2)

[1] Vgl. zu meiner Konnotation dieser Begriffe meinen ersten Artikel.
[2] Es gäbe ganz viele weitere Beispiele zu ergänzen. Vgl. dazu dieses Video von Michael Horton.
[3] Vergleiche auch die Aussage Basils, die später oft von Vertretern der zwei-Quellen-Theorie zitiert wurde (in Keith Mathison, Shape of Sola Scriptura, 33-35).
[4] Vgl. zu dieser Entwicklung Heiko Obermann, Harvest of Medieval Theology und Brian Tierney, Origins of Papal Infallibility.
[5] Zum häufig artikulierten Vorwurf, dass Luthers Berufung auf sein Gewissen Tür und Tor für ein individualistisches Verständnis der Schrift geöffnet habe, kann ich hier leider nicht weiter eingehen. Siehe dazu Hans Küng, zitiert in Mathison, S.101-102.
[6] Auch hier haben wir leider nicht den Platz, diese Aussage historisch zu überprüfen. Ich sage nur, dass sehr gute Gründe zur Annahme gibt, diese Lehren als tatsächlich neu zu sehen. Zur Himmelfahrt Marias bspw. siehe Gavin Ortlund's Kapitel dazu in What it Means to be Protestant.