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  • matt studer

Warum das Sex-Thema zum Kern gehört - Über das Problem der evangelikalen Einheit

Aktualisiert: 11. Mai 2023


Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht zur Vielfalt gliedert, ist Tyrannei.

(Blaise Pascal)


Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.

(Jesus in Joh. 17,21)



Wir leben in polemisierenden Zeiten. Gewisse Meinungsmacher vertreten ihre Theorien mit dem unterschwelligen Statement, dass wer nicht für sie, dann gegen sie ist. Ich mag schwarz-weiss-Filme, aber nicht unbedingt schwarz-weisses Denken. Die Themen, die wir bewegen, sind nun mal viel-schattierter, differenzierter. Auf der anderen Seite bringt es uns aber auch nicht weiter, wenn wir nichts Klares mehr zu äussern vermögen, wenn alle Sätze mit ... anstatt mit einem Ausrufezeichen enden!


Diese Dynamik spielt mit rein, wenn es ums Thema der Einheit unter uns Evangelikalen geht. Sollen wir möglichst viele Meinungen einladen, so lange man sich noch irgendwie zu Jesus bekennt? Sollen wir das Zeltdach so breit wie nur möglich spannen, damit wir der Inklusivität des Evangeliums, dem 'Alle sind willkommen' gerecht werden? Oder sollen wir den Rahmen enger abstecken, damit wir dem Exklusivitätsanspruch des Evangeliums, dem 'Jesus ist der einzige Weg zum Vater', Genüge tun? Die erste Variante kann in ihrem Extrem so in die Breite gehen, dass das 'Fundament Jesus' ganz inhaltsleer wird. Nämlich dann, wenn man sich nicht mehr auf ein gemeinsames Bekenntnis einigen kann, weil man nichts Klares und Eindeutiges mehr festlegen will. Und die zweite Variante kann die Grenzen so eng ziehen, dass jegliche Vielfalt im Keim erstickt, respektive aussen vor gehalten wird. Es ist offensichtlich, dass beide Varianten in ihrem Extrem nicht praktikabel sind. Die evangelikale Bewegung hat historisch gesehen jeweils den goldenen Mittelweg genommen: stark und klar im Kern, tolerant in den Randfragen.


Nun steht die evangelikale Welt im deutschsprachigen Raum vor der Herausforderung, mit dem Phänomen der 'Ausbreitung von postevangelikaler und progressiver Theologie' in ihren Gemeinden, Gemeinschaften, Werken und Bünden' umzugehen, wie Markus Till es benennt. Diese progressive Stossrichtung hinterfragt alte Glaubenswahrheiten und stösst die Türen zu neuen spirituellen Formen und theologischen Denkmustern auf. Soll man diese Impulse nun integrieren oder ablehnen? Auf Ebene der Evangelischen Allianz in Deutschland möchte man lieber integrieren anstatt polarisieren, besser Spannungen aushalten und weniger einfach 'Positionen raushauen'. Steffen Beck meint denn in einem Interview über den Allianz-Zukunftsprozess folgendes:

Wir müssen es schaffen, die verschiedenen Positionen an einen Tisch zu bringen, dass die Flügel zusammenfinden oder beieinanderbleiben können. [Warum?] Weil der Auftrag, den wir haben, wichtiger ist als die Nuancen in der Theologie, der Lehre und der Ethik, die wir immer unterschiedlich beantworten werden.

Die Hoffnung ist, dass die Einheit durch den Dialog gewahrt wird. Dass sich durch eine Beteiligung aller am Ende auch alle wohl fühlen werden. Nochmals Beck: 'Das wäre ganz anders als eine Positionstheologie, bei der man links und rechts schnell runterfallen kann.' Sein Wunsch ist zusammengefasst, 'dass die Christenheit sich nicht in der Mitte spaltet.'


Dass ist gewiss ein nobler Wunsch. Doch lässt er sich realisieren? Ich werde im folgenden andeuten warum ich glaube, dass sich dieser Wunsch gerade im so nuancierten Bereich der Sexualethik nicht erfüllen kann.



Gehört das Thema Homosexualität nun zum Kern oder zum Rand des historischen, christlichen (evangelikalen) Glaubens?

Beck spricht für viele, wenn er den gemeinsamen (missionarischen) Auftrag der Kirche gegenüber 'Nuancen' in der Theologie und Ethik ins Zentrum stellen will. Doch geht es beim Thema Sex wirklich um verschiedene Nuancen und valide Alternativen? Gerade die kürzlich ausgetragene Zukunftskonferenz der anglikanischen Kirche in Kigali belehrt uns eines Besseren. Das Hauptthema war Homosexualität und ob man homosexuelle Ehen jetzt kirchlich segnen soll. Eine überwiegende Mehrheit der anglikanischen Bischöfe stellte sich dagegen. Eine Entscheidung, die weitreichende Folgen für die anglikanische Kirche haben wird. Ulrich Parzany fasst zusammen:

In einer der großen reformatorischen Kirchengemeinschaften, die bis jetzt ihr bestimmendes Zentrum in Europa hatte, kündigt die überwältigende Mehrheit der verbundenen Kirchen ihrem Oberhaupt und den leitenden Institutionen die Gefolgschaft auf. Die Mehrzahl der Kirchenmitglieder der Anglikanischen Kirchengemeinschaft wie überhaupt der christlichen Kirchen lebt auf der südlichen Erdhalbkugel. Wer meint, die europäischen Kirchen könnten dem Rest der Welt ihre Theologie aufzwingen, weil sie noch mehr Geld hätten, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden.

Hier geht es weniger um ein Aushandeln von Nuancen, denn um eine glasklare Positionierung, wie die Kigali-Erklärung deutlich macht (nach der Übersetzung Parzany's):

Wir lehnen die Behauptung ab, dass zwei gegensätzliche Positionen in Angelegenheiten, die das Heil betreffen, gültig sein können. Wir können nicht mit denen in guter Meinungsverschiedenheit gemeinsam gehen, die absichtlich den Weg weg von dem Glauben, „der ein für allemal den Heiligen überliefert ist“ (Judas 3), gewählt haben.

Sind die leitenden Bischöfe der nicht-westlichen Welt gegen kirchliche Einheit? Spalten sie die Kirche, weil sie ihre subjektive Meinung zu diesen Fragen ins Zentrum rücken, anstatt den gemeinsamen Auftrag zu betonen? Gerade das Gegenteil ist der Fall, jedenfalls gemäss dem Selbstverständnis der unterzeichnenden Bischöfe. Nicht die anglikanische Kirche global, sondern 'die Kirche von England [mit ihrem Oberhaupt, dem Bischof von Canterbury] hat gewählt, ihre Beziehungen mit den orthodoxen Provinzen in der Gemeinschaft zu beschädigen.' Können wir das schlucken? Nochmals, es ist die Kirche von England, die sich durch ihre progressive Ethik von der 'orthodoxen Kirche' verabschiedet. Und zwar nicht nur von der weltweiten anglikanischen Kirche, sondern auch von der historischen Kirche. Denn das Zeugnis der Kirche aller Zeiten zum Thema Homosexualität war bis anhin einmütig und klar. Das ist kein arrogantes Statement, sondern eine gut belegte Tatsache. Siehe dazu das dicke Buch Unchanging Witness: The Consistent Christian Teaching on Homosexuality in Scripture and Tradition von Fortson und Grams.


Es gibt weitere Beispiele zu nennen, wie diese Erklärung von 'Evangelicals and Catholics Together', eine Verteidigungsschrift der christlichen Ehe. Die Erklärung beginnt mit diesen 'kompromisslosen' Worten (Hervorhebung von mir):

In this statement we speak as Christians to Christians, using the language of the faith. Our hope is to clarify and reclaim the truth about marriage. If we are to remain faithful to the Scriptures and to the unanimous testimony of Christian tradition, there can be no compromise on marriage. We cannot allow our witness to be obscured by the confusions into which our culture and society have fallen.

Diese Erklärung zeigt sehr schön wie christliche Einheit (zwischen Evangelikalen und Katholiken in diesem Thema) funktionieren kann. Gemeinsam bekennt man den Kern der Sache - die Gott gegebene Ordnung der Ehe zwischen Mann und Frau - auch wenn man sich in gewissen Details (Verhütung, Scheidungsgründe, u.a.) uneins ist.



Über die 'Architektur' der christlichen Theologie und Ethik

Wenn man die ganze Diskussion bei Tageslicht betrachtet, wird es sonnenklar, dass man Homosexualität nicht gleichzeitig gutheissen und nicht gutheissen kann. Man kann nicht sagen, dass der homosexuell ausgelebte Lebensstil von der Bibel als sündig bezeichnet wird und im gleichen Atemzug einfordern, dass die Kirche diesen Lebensstil nun segnen soll. Nun werden aber von der progressiven Seite an der Stelle relativierende 'Nuancen' ins Feld geführt, wie zum Beispiel: 'Können oder sollen wir aus den wenigen Bibelstellen, die sich zum Thema äussern, wirklich eine so kernige Position formulieren? Wieso macht ihr 'konservativ Gläubigen' bei diesem 'biblischen Randthema' so ein Tamtam?' 'Sowieso kann man diese paar Paulusworte ja auch anders auslegen. Und das Alte Testament ist hinsichtlich dieser Frage doch sowieso veraltet.' Die Strategie geht folgendermassen: Man streicht heraus, dass die Bibel sich zu diesem Thema sowieso nicht klar äussere und dass wir dieses Thema deswegen nicht so thematisieren sollten. Meine Gegenfrage dazu wäre, warum das Thema von progressiv-revisionistischer Seite dann so heiss aufgekocht wird? Wozu all die Podcasts, Bücher, Blogs und Konferenzen? Es scheint eben doch kein unbedeutendes Randthema zu sein, bei dem konträre Meinungen ganz emotionslos über einem Pausenkaffee ausgetauscht werden. [1]


Man kann der konservativen Seite natürlich schon vorwerfen, dass sie primär 'dagegen' ist (der Vorwurf ist nicht unbegründet, will ich sagen). Der springende Punkt ist aber, dass die historische Christenheit hier ganz konkret für etwas sehr Wichtiges ist, nämlich für die Schöpfungsrealität 'Gott schuf sie als Mann und Frau'. Diese von Gott intendierte Binarität führt in der Schöpfung weiter zur Vereinigung von Mann und Frau in der Ehe.

Jesus entgegnete: »Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer am Anfang die Menschen als Mann und Frau erschuf und dass er gesagt hat: ›Deshalb wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und sich mit seiner Frau verbinden, und die zwei werden ein Leib sein‹? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern sie sind ein Leib. Darum: Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen. (Mt. 19,4-6)

Warum ist diese Schöpfungsrealität so entscheidend wichtig? Geht es hier wirklich um eine der zentralen Aussagen in der Bibel, im Gegensatz zur Frage, ob wir zu Beginn oder erst am Ende der Endzeit entrückt werden, oder ob man beim Worshippen die Hände oben oder unten haben soll? Ich meine JA – hier wird, ganz 'am Anfang' der Bibel, eine zentrale Wahrheit offenbart, die den weiteren Verlauf der biblischen Story einfärbt. Trevin Wax nennt sie eine ‘architektonische Wahrheit’, eine tragende Wand des christlichen Bauwerks. Wenn wir diese Wand entfernen, gerät das ganze Gebäude in Schieflage. Es verliert seine Stabilität. Ist das wirklich so?


Die Bibel beginnt und endet mit einer Hochzeitszeremonie, der Hochzeit von Adam und Eva im Garten Eden, und der Hochzeit von Christus und seiner Braut, der Gemeinde, in der zukünftigen Garten-Stadt, dem neuen himmlischen Jerusalem. Dann wird nicht nur die Kirche mit Christus vereinigt, sondern Himmel und Erde verschmelzen miteinander. Was einst getrennt war, wird dann eins sein. Die Komplementarität und Verschmelzung von Mann und Frau am Anfang der Story steht als ein Zeichen für diese noch viel tiefere und ewige Vereinigung von Gott und der Kirche am Ende der Zeiten. So meinen auch die Autoren von Evangelicals und Catholics Together:

As Christians, we must state, unambiguously, that same-sex marriage contradicts the Gospel. As we have noted, Holy Scripture teaches that marriage, as ordered by God, is a mysterious sign of the union of Christ and the Church. This sign is dependent on the profound complementarity of male and female. A conception of marriage that allows for same-sex unions denies this element of difference, rendering it unable to signify the mystical union of Christ and his Church.

Komplementarität stützt das architektonische Gebäude – und ein wichtiger Aspekt dieser Komplementarität ist die körperliche Differenzierung zwischen Mann und Frau. Gott schuf Frau und Mann auch im körperlichen Sinne ‘passend’ füreinander (was bereits einem Pre-Teen klar ist). Mehr noch, aus der körperlichen Vereinigung von Mann und Frau kann dann neues Leben entstehen. Ja, der Schöpfungsauftrag ‘seid fruchtbar und vermehret euch’ widerspiegelt Gottes Schöpfungskreativität - der Gott, der aus dem Nichts neues Leben kreiert. Gleichgeschlechtlichen Paaren entgeht diese Möglichkeit. Und dann wächst das

geborene Kind inmitten der ‘binären Einheit’ von Mutter und Vater auf (stimmt es nicht, dass ein Kind sowohl Mutter und Vater braucht?). Was würde auf der horizontalen Ebene geschehen, wenn wir diese Binarität in der Familie auflösen würden? Und was wären die vertikalen Konsequenzen, wenn wir unserem Gott nicht mehr mit ‘Vater’ anreden würden, wie Jesus uns dies gebot und wie es in den Glaubensbekenntnissen verankert ist? [2]


Das Thema Homosexualität (und der Genderthematik insgesamt) auf einzeln verstreute Bibelverse zu reduzieren ist eben genau das, reduktionistisch! Es wird der Tatsache nicht gewahr, dass die Gender-Binarität ein Kernelement der biblischen Story ist.



Pattsituation im Thema Einheit - Ein paar abschliessende Gedanken

Evangelikale Einheit in sexualethischen Fragen wird nicht gelingen, es sei denn eine der beiden Seite revidiert ihre festen Überzeugungen. Den berühmten Mittelweg, auf den manche vielleicht noch hoffen, gibt es letztlich nicht. Das meinte auch David Gushee, ein wichtiger Befürworter für eine liberalisierende Öffnung der Evangelikalen für die Gender-Thematiken:

It turns out that you are either for full and unequivocal social and legal equality for LGBT people, or you are against it, and your answer will at some point be revealed. This is true both for individuals and for institutions. Neutrality is not an option. Neither is polite half-acceptance. Nor is avoiding the subject. Hide as you might, the issue will come and find you.

Nimmt die Kigali-Erklärung ein Szenario vorweg, das noch weiteren Gemeindeverbänden und institutionellen Vereinigungen 'blüht'? Ich bin nicht sehr gut im Kaffeesatzlesen. Aber ich denke Gushee hat Recht, dass wir das Thema nicht ausblenden sollten, auch wenn es unangenehm sein wird. Verbandsleitungen und einzelne Institutionen werden sich positionieren müssen. Mir ist klar, dass sich dieser Prozess im Rahmen der Allianz anders gestaltet als in einem Gemeindeverband (ich äussere mich hier nicht als Experten dazu). Und wir sollten in unseren Gemeinden ganz dringend darüber reden, nicht nur 'dagegen', sondern vor allem auch begeisternd FÜR Gottes Story.


Verwandte Beiträge:

Weitere Beiträge zum Thema evangelikale Einheit:



[1] Zur Strategie der progressiven Seite, ihr eigentliches Hauptthema rhetorisch zu einem Nebenthema zu machen, fand ich diesen Artikel von Kevin DeYoung aufschlussreich.


[2] Das Thema Gott und Gender ist auf progressiver Seite beliebt. Die Argumentationslinie geht meistens in die Richtung: Gott ist ja Gender-neutral, mehr noch, die Bibel beschreibt ihn auch durch weibliche Eigenschaften. In der Geschichte der Kirche wurde Gott (leider) vor allem männliche Eigenschaften zugeschrieben, auch um das männliche Patriarchat zu untermauern. Heute sollte man dagegen vor allem seine Weiblichkeit betonen.




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