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  • matt studer

Post-evangelikal #4: Stehen wir an einer KREUZung?

Aktualisiert: 16. März 2022


Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen.

(Römer 1,16)


Das Adjektiv 'evangelikal' entnimmt man dem Nomen 'Evangelium', also der Guten Nachricht, dass Jesus für alle Völker das Heil erwirkt hat. Der evangelikale Glaube war von Beginn an auf diese Gute Nachricht fokussiert, die gepredigt, gehört und geglaubt werden will (Röm 10,4). Dies als etymologisches Amuse-Bouche vorneweg.


Das Evangelium ist die gute Nachricht darüber, was uns Gott in Christus schenkt. In evangelikalen Erzählungen über das Evangelium steht die Episode des Kreuzes an prominentester Stelle. Jesus kam um zu sterben! Dieses Kreuz steht im Mittelpunkt der evangelikalen Spiritualität (als eines der vier dauerhaften Ecken des Bebbington'schen Vierecks). Aber gerade an dieser einen Ecke wird heute kräftig herumgebastelt und gedanklich herumexperimentiert. Was, wenn wir die Bedeutung des Kreuzes traditionell missverstanden hätten, oder diese Bedeutung nicht mehr in unsere Zeit passt? Was, wenn wir Aspekte des Kreuzes übersehen hätten, die uns heute weiterhelfen würden?


Schon seit jeher haben Christen das Kreuzgeschehen bunt und vielschichtig gedeutet. Das macht Sinn, wenn man bedenkt, dass bereits die Apostel, die ja selber ganz nah an der Sache dran waren, verschiedene Perspektiven anboten. Die Bibel bekundet keine Mühe mit Perspektivität. Wieso gäbe es sonst vier Evangelien, vier Blickwinkel auf das Leben und Sterben Jesu? Eine Kernfrage, die sich mir in meiner Auseinandersetzung mit dem Phänomen 'evangelikal-post-evangelikal' immer wieder stellt ist, ob wir hier nur von unterschiedlichen, aber letztlich zu vereinbarenden und sich ergänzenden Perspektiven reden (ein Hurra auf Perspektivität!), oder ob es sich nicht doch um sich gegenseitig ausschliessende Sichtweisen handelt (ein Buuhhh auf vorgegaukelte Einheit!). Schauen wir uns zunächst an, wie ein 'normaler Evangelikaler' über das Kreuz denkt (und bitte vergebt mir die Generalisierungen, ohne die ich aber keinen einzigen Beitrag schreiben könnte). [1]


Evangelikale und das Kreuz


This is the art of celebration

Knowing we're free from condemnation

Oh praise the One, praise the One

Who made an end to all my sin

(Boldly I approach - Rend Collective)


Was das Kreuz für Evangelikale ausmacht, ist seine vertikal-persönliche Ausrichtung. Ich als Mensch habe ein Problem mit Gott! Denn durch meine Sünde lebe ich getrennt von ihm. Also kommt Jesus und lädt meine Sünde am Kreuz auf sich (theologischer würde man sagen, er trug meine Schuld, die sich angesichts des heiligen und gerechten Gottes in meinem Leben anhäufte - und das sind recht grosse Haufen, die ich nicht selber wegschaufeln kann). Durch Jesu Tod am Kreuz bin ich nun nicht länger durch Gottes Gerichtsspruch verurteilt, sondern free from condemnation, wie es die noch recht junge Hymne besingt (sie kommt nicht aus dem 18. Jahrhundert, sondern, man staune, aus dem Jahr 2014!). Gottes Gnade befreit mich von meiner Sünde und versöhnt mich mit Gott. Amazing Grace! Genau hier ist der Kern des 'evangelikalen Evangeliums' zu finden.


Wie viel hier mitschwingt! Das Menschenbild, die Situation des Menschen vor Gott, der Charakter und die Attribute Gottes, die Art und Weise des Heils durch Christus und vieles andere noch. Einen Aspekt möchte ich kurz aufgreifen, weil er heute so umstritten ist, den Aspekt der Stellvertretung. Evangelikale glauben, dass Jesus stellvertretend für uns etwas gemacht hat, dort am Kreuz. Er sühnte für unsere Schuld. Moderner würde man sagen, er bezahlte sie ab, halt so wie ein Bankräuber sein Vergehen durch Einsitzen im Knast abbezahlt.


Und was ist mit dem Charakter Gottes? Denn evangelikal verstanden hat der Mensch ja eben zuerst ein Problem mit Gott. Weil Gott heilig und gerecht ist, kann er unsere Sünden nicht einfach tolerieren und ausblenden. Als sündiger Mensch kann ich vor ihm nicht bestehen. 'Weh mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen.' (Jes 6,5) Gerade darum zeigt sich am Kreuz auch Gottes Gerechtigkeit. Indem Jesus, der einzig Gerechte für uns Ungerechte stirbt, stellt Gott unsere Gerechtigkeit vor ihm wieder her, so paradox und unpopulär dies heute tönen mag. Das ist der Grund, dass Evangelikale gemeinsam mit Jesaja, wieder singend und klatschend vor Gott erscheinen können.


Boldly I approach Your throne

Blameless now I'm running home

By Your blood I come

Welcomed as Your own

Into the arms of majesty



Post-Evangelikale und das Kreuz

Nun tun sich Post-Evangelikale mit der evangelikalen Deutung des Kreuzes recht schwer. Ich glaube, dass ihnen vor allem der stellvertretende Sühnetod Kopfschmerzen bereitet. Kann Gott wirklich erst dann Vergebung aussprechen, nachdem Jesus mit seinem Tod für die Sünden der Menschheit 'bezahlt' hat? Das wäre doch ein mörderischer Tausch. [2] Das tönte ja nach einem blutrünstigen Gott, der Opfer braucht, durch die er versöhnlich gestimmt wird. Andreas Loos fragt in diesem Sinne: 'Muss Gott von zornig auf barmherzig umgestimmt werden?' Von einem solchen Gott möchte man sich lieber verabschieden.


Ich meine, in der post-evangelikalen Reaktion auf das 'evangelikale Evangelium' diese zwei Akzente herauszuhören.


Theologische Probleme und Weiterentwicklungen

Die (theologische) Hauptfrage oder das Grundproblem lautet: braucht Gott Opfer, muss er versöhnt werden, braucht es einen vertikalen Tausch (wir geben Opfer, also gibt Gott Vergebung)? Muss Gott von zornig auf barmherzig umgestimmt werden? Anders gefragt, brauchen wir eine Logik der Kompensation oder des Ausgleichs: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Für viele Post-Evangelikale geht diese Logik nicht länger auf. [3]


Ging es bei den Opfern im Alten Testament wirklich darum, Gott zu besänftigen, wie man dies bei den heidnischen Göttern tun musste? Warum installierte Gott das Opfersystem? Andreas Loos sieht den tieferen Sinn dieser Tieropfer darin, dass Menschen durch das Opfern erkennen konnten, dass sie göttliche Vergebung nötig haben. Nicht dass Gott diese Opfer irgendwie bräuchte, sondern dass 'wir sie brauchen'. 'Gott will vergeben, aber er muss den Sünder in seinem Herzen an den Punkt bringen, an dem er einsieht, dass er Vergebung braucht.' Es geht also nicht um einen Tausch oder Ausgleich (wie könnte ich meine schwereren Vergehen denn je wieder ausgleichen?). Es geht um die persönliche Erkenntnis der Sünde und das Sündenbekenntnis vor Gott und vor anderen Menschen. Denn durch diese Erkenntnis und mein Bekenntnis ermöglicht Gott mir einen Ausstieg aus dem Kreislauf der Vergeltung (Auge um Auge, Zahn um Zahn).


Für viele Post-Menschen ist gerade dieses Ausgleichsdenken ein Kernproblem der Menschheit. Wir strafen menschliche Vergehen 'mittels Gewalt' (staatliche Gewalt, oder direkte Vergeltung in Stammeskulturen ), um einen Ausgleich herzustellen. Wird nicht Gewalt "in einer unendlicher Kette von Straftaten verewigt", wie Ricoeur es formulierte? Und wenn nun Gott seinen Sohn in die Gleichung geben, wenn er ihn an unserer Stelle 'strafen' würde? Dann wäre Gott ja Teil dieser Kette, weil er das Opfer seines Sohnes für seine Genugtuung einfordert. Dann würde er die Kette des Bösen nicht durchbrechen, sondern sie sogar 'vertikal' verewigen.


Wie muss man den Tod Jesu am Kreuz dann verstehen, wenn er kein stellvertretendes Sühneopfer für die Sünden der Menschen war (sein Auge für mein Auge)? Die post-evangelikale Antwort geht ungefähr in diese Richtung: Als Menschen sind wir im Netz des Bösen gefangen. Wir müssen daraus erlöst werden. Nun kommt Jesus aber nicht in der 'Manier des Bösen', um es mit dem Knüppel und der Eisenstange zu brechen. Er kämpft nicht mit den Mitteln des Bösen gegen das Böse, denn sonst würde er sich ja daran beteiligen und den Kreislauf der Gewalt noch weiter 'anheizen'! Vielmehr, 'indem er dem Bösen gestattet, dass es seine Gewalt an ihm auslässt, läuft die Spirale der Gewalt ins Nichts, das Monster wird nicht neu genährt, es findet keine neue Nahrung.' Nur durch den 'gewaltfreien Widerstand' und seine Vergebungsbereitschaft im Angesicht des Bösen ('Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun!') war Gott im Stande, die Lüge des Bösen zu entlarven. Dies war Jesu paradoxer Sieg über das Böse. René Girard, der so etwas wie eine Vaterfigur dieser Theorie ist, schreibt:

Der Gott von Jesus Christus ist kein gewalttätiger Gott, der vergeltende Gerechtigkeit ausübt, sondern ein gewaltloser [Gott], der Gewaltlosigkeit und nicht Opfer fordert. (The Scapegoat, 189, meine Übersetzung)

Für Evangelikale offenbarte sich Gottes Liebe am Kreuz, weil Jesus an ihrer Stelle starb und so ihre Strafe trug. Für Post-Evangelikale zeigt sich Gottes Liebe darin, dass sich Jesus im Angesicht des Bösen, das ihn überwältigte, nicht von der Liebe abbringen liess, dass er inmitten eines menschlich abgrundtiefen Hasses zu vergeben bereit war, dass er nicht Gleiches mit Gleichem vergalt, sondern das Böse durch das Gute (lies 'Gewaltfreie') überwand. Und dadurch befreit er auch uns vom Bösen, indem er in seiner unendlichen Bereitschaft, sich dem Bösen zu stellen und sich mit uns Sündern zu identifizieren, auch unsere Herzen erreichen und uns zur Umkehr bewegen kann.


Wer war Jesus also, das Opferlamm oder ein Mahatma Gandhi?


Die Frage nach der Relevanz

Welches Kreuz 'brauchen' die Menschen von heute? Früher hatte man noch Feuer, Schwefel und Hölle gepredigt (ok, das war sehr viel früher)! Früher hatten die Menschen ja auch noch ein Schuldbewusstsein, ein moralisches Grundverständnis, dass sie durch ihre Sünden vor Gott schuldig waren. Wenn das Evangelium auf eine solche Schuldkultur trifft, macht die evangelikale Variante mehr Sinn. Doch heute, wenn sich unsere Kultur von einer Schuld- zu einer Schamkultur weiterentwickelt hat (lassen wir diese These einfach mal so im Raum stehen), passt das evangelikale Evangelium nicht mehr so recht ins Schema. Wie müsste die gute Nachricht heute lauten, damit sie wirklich eine gute Nachricht ist? In der ganzen Diskussion ums Kreuz steht für Post-Evangelikale diese eine Frage im Zentrum: Wie kann das Kreuz gesellschaftsrelevant kommuniziert werden?



Lauter KREUZWORTRÄTSEL ... aber wie lautet das Lösungswort?


Ein paar Fragen und Anregungen an Post-Evangelikale

Es ist viel einfacher zu Dekonstruieren als Aufzubauen! Ihr seid gut darin, die Schwächen der evangelikalen Darstellung des Kreuzes aufzuzeigen (und übrigens finde ich, dass Evangelikale sich diese Kritik anhören und davon lernen sollten). Wie gut seid ihr darin, eure eigenen Ansichten biblisch zu belegen und auch argumentativ überzeugend zu vertreten und so euren Teil zur Lösung des Kreuzworträtsels beizutragen?


Weiter, sagt eine bestimmte Lehre über das Kreuz zwangsläufig immer mehr über die Leute aus, die sie 'erfunden' haben, als über das Kreuz selbst oder was die Bibel über das Kreuz lehrt? [4] Ihr seid schnell dabei aufzuzeigen, dass die klassisch-evangelikale Sicht entweder ein Kind der mittelalterlichen Ritter-Ehre-Kultur (Anselm von Canterbury) war, oder im juristisch vorherrschenden Denken zur Zeit der Reformation ihren Ursprung fand (siehe dazu diesen kurzen Beitrag). Es stimmt natürlich, dass die eigene Zeit die eigenen theologischen Überlegungen immer mitprägt. Doch auch diese Leute befassten sich mit der Bibel und suchten nach Antworten im Wort Gottes, vielleicht sogar mehr als wir es heute tun. Auf der anderen Seite, wie sehr seid ihr Kinder eurer Zeit? Wie sehr wird eure Deutung des Kreuzes von einer zeitgemässen Agenda mitbestimmt?


Kommen wir zu den theologischen Anfragen. Wenn ich die post-evangelikale Varianten richtig verstanden habe, geht es dabei weniger um eine persönliche Versöhnung des Menschen mit Gott, als um eine allgemeine Demonstration der Liebe Gottes angesichts des Bösen und die göttliche Überwindung dieses Bösen. [5] Warum aber dann das Kreuz? Hätte es nicht gereicht, wenn Jesus einfach durch sein Leben die göttliche Liebe und Vergebungsbereitschaft verkörpert hätte? Du sagst vielleicht, 'Ja! Aber am Kreuz zeigte er doch seine Liebe zu uns und seine Solidarität mit uns auf eine unüberbietbare Weise.' Wirklich? Ist nicht gerade diese Vorstellung letztlich grausam und unmenschlich (ungöttlich)? Was ist Liebe? Stell dir vor, du sitzt mit deinem Freund an einem grossen Lagerfeuer und er sagt: 'Hey, ich zeige dir jetzt mal meine grosse Liebe für dich' und dann springt er ins Feuer und wird vernichtet. Und jetzt stell dir vor, deine Kinder befänden sich in einem brennenden Haus und dein Freund holt sie heraus, rettet sie und verliert dabei sein Leben. Welche der beiden Taten würdest als Liebe bezeichnen? [6]


Eine weitere theologische Grundsatzfrage lautet, ob Jesus am Kreuz vor allem oder sogar ausschliesslich die bösen Mächte überwunden hat (und natürlich wer oder was diese Mächte sind), oder ob er auch sündige Menschen mit Gott versöhnt hat. Bei der Variante 'Böses überwinden' schiebt man die persönliche Verantwortung des Menschen stark in den Hintergrund. Das Böse ist dann so etwas wie eine Kraft, die 'ausserhalb' des Menschen wirkt und 'über ihn kommt' oder ihn gefangen nimmt. Was ist mit dann Sünde? Ist Sünde etwas, das der Mensch aktiv tut, oder ist sie etwas, das er sich wie eine Grippe einfängt? Kann er letztlich gar nichts dafür, weil er ein Opfer des Systems, ein Gefangener des Bösen geworden ist?


Thema Gottesbild: Wohin mit Gottes Zorn? Muss dieser Zorn besänftigt werden, oder ist Gottes Zorn selbst die Kraft, die das Böse zerstört? Und damit verbunden, was ist mit Gottes Gerechtigkeit und Heiligkeit? Wie kann Gott uns Menschen lieben ohne seine Gerechtigkeit aufzugeben? Was ist das für eine Liebe, der Gerechtigkeit egal wäre? Nehmen wir dieses drastische Beispiel: Wie kann Gott einem Massenmörder einfach so vergeben? Kann er ihn einfach so lieben? Und wenn wir nun das Kreuz in die Gleichung mit hineinnehmen, welche Erklärung passt besser: 'Jesus solidarisierte sich aus Liebe mit dem Massenmörder', oder 'Jesus trug die Strafe des Massenmörders, damit dieser mit Gott versöhnt werden kann'? Welche der beiden Variante ist gerechter?


Am Ende läuft es doch darauf hinaus, ob das Kreuz noch direkt und persönlich mit der Situation des Menschen vor Gott zu tun hat? Post-Evangelikale wollen keine Opfer, kein Gerichtsurteil, keinen Stellvertretungstod. Einmal abgesehen von der Frage, wie hier Texte wie der Römer- oder der Hebräerbrief in ihr Schema integriert werden können - geschweige denn Jesu eigene Auslegung seines Todes: 'Dies ist mein Leib, der für euch hingegeben wird und dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird' - werde ich diese grundsätzliche Frage nicht los: Warum braucht es das Kreuz?


Ein paar Fragen und Anregungen an Evangelikale

Vorneweg: ich glaube mit ein Grund, warum Post-Evangelikale sich vom evangelikalen Verständnis des Kreuzes abwenden, hat damit zu tun, wie Evangelikale ihr Verständnis präsentiert haben. 'Jesus setzte sich Gottes Zorn aus' und 'er trug deine Sünden' sind keine gängigen Mimen. Das sind schwierige Sätze von tief-dichtem theologischen Gehalt, die ausgedeutscht werden müssen. Wer solche Sätze nur immer nachplappert, wird am Ende über seine eigene Zunge stolpern. Evangelikale sollten glaubwürdiger erklären können, was es mit Gottes Zorn und seiner Gerechtigkeit auf sich hat und warum all dies Sinn macht, selbst in der heutigen Zeit noch! Wir müssen neue Worte finden, um über das alte Problem der Sünde zu reden, so dass es verständlich wird. Und wir sollten den Satz 'Jesus starb für mich' theologisch und persönlich mit unseren Erfahrungen und Stories so füllen können, dass diese für uns so wichtige Wahrheit nicht letzten Endes nur noch als theologisches Konstrukt auf dem Regal verstaubt!


Weiter, Evangelikale sollten nicht nur das Kreuz, sondern auch die Auferstehung und die Auffahrt Jesu im Zusammenhang mit seinem Königreich betonen. Es bleibt nicht dabei, dass Jesus für meine Sünden starb, sondern 'er lebt nun auch in mir' (durch seinen Geist, hallo)! Er lebt auch im Himmel, von wo er sein Königreich aufrichtet. Es gibt ein Leben nach dem Tod - und es gibt auch ein christliches Leben nach der Sündenvergebung, in Gemeinschaft mit dem Vater, in Einheit mit Christus und erfüllt mit den Heiligen Geist. Wir sind nicht nur gerettet vor dem Gericht und der Verdammnis, sondern auch gerettet zu einem Leben mit Gott.


Für uns Evangelikale heisst Kreuz gleich Stellvertretungstod! Vielleicht sollten wir aber auch von unseren charismatischen Geschwistern dazulernen, für die das Kreuz auch mit Gottes Sieg über die bösen, dämonischen Mächte zu tun hat. Wieso nicht das eine und auch das andere? Auch die 'Demonstration-der-Liebe-These' sollten wir nicht so schnell von der Hand weisen, denn das Kreuz ist unser Vorbild: 'Tragt auch ihr euer Kreuz!', sagte Jesus zu seinen Jüngern. Das Geschehen am Kreuz ist vielschichtig, die Bibel verwendet verschiedene Interpretationsbilder und in der Geschichte wurden verschiedene Aspekte des Kreuzes herausgearbeitet. Im evangelikalen Mainstream reduziert man das Kreuz manchmal nicht aufs Wesentliche, sondern nur aufs Allernötigste. Es stimmt, für uns steht das Kreuz für Stellvertretung. Das ist der unaufgebbare Kern des Kreuzes. Er liegt allen biblischen Interpretationsbildern zu Grunde. [7] Aber darum herum gibt es Raum für verschiedene Möbel. Wieso steht dann bei uns nur ein Tisch in der Mitte des Raumes?

Abschliessend diese Mahnung: Evangelikale sollten theologischer und biblischer über das Kreuz denken. Jesus spricht beim Mahl vor seiner Verhaftung vom neuen Bund. Ich meine, dass die Kategorie des Bundes mit seinen juristischen und personalen Kategorien eine enorm hilfreiche Kategorie wäre, um das Kreuz zu verstehen. Es gibt Hausaufgaben zu erledigen!


(Für weiter Gedanken zum Kreuz aus einer evangelikalen Perspektive siehe hier).


Stehen wir an einer Kreuzung?

Kommen wir zurück zu dem Punkt, an dem wir gestartet sind. Das Kreuz darf und muss vielschichtig gedeutet werden. Diversität bewahrt vor Einseitigkeit. Doch dies ist die CRUX dabei: für Evangelikale gibt es gemäss der Bibel eine Hauptdeutung des Kreuzes, das klassische Verständnis des Stellvertretungstodes: Jesus starb wegen meiner Sünden am Kreuz. Dieses Verständnis liegt uns so nah am Herzen. Es ist für uns das Herzstück unserer Spiritualität, dass, wenn man es wegliesse, unser geistliches Leben nicht mehr richtig pulsieren würde (zumindest könnten wir viele Lieder nicht mehr singen!). Ihr Post-Evangelikalen betont die Vielfalt des Kreuzes und lasst diesen so zentralen Aspekt trotzdem weg. Damit nehmt ihr weniger Vielfalt in Kauf. Ich befürchte, dass wenn wir in diesem Punkt keine Schnittmenge finden, sich unsere Wege mit der Zeit immer weniger kreuzen werden. Wir werden zwar beide vom Kreuz reden, aber nicht mehr dasselbe damit meinen.



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[1] Ach ja, was heisst schon normal? Wer Bebbington's Geschichte des Evangelikalismus liest, merkt, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt. So wurde die Stellvertretungs-Lehre auch schon früher immer wieder mal kritisiert. Mit normal meine ich darum mehr 'die allgemeine Mehrheit betreffend' oder so ähnlich.


[2] Die Wendung 'mörderischer Tausch' habe ich mir von Kevin J. Vanhoozer entliehen: 'The Atonement in Postmodernity: Gilt, Goats and Gifts' (Buch 'The Glory of the Atonement').


[3]. Für diesen ganzen Abschnitt interagiere ich implizit und explizit mit Andreas Loos (zu hören auf dem Movecast bei Martin Benz), sowie dem Kapitel von Vanhoozer.


[4] Post-Menschen beschäftigen sich gerne mit Genealogie (ein Hobby, das schon Nietzsche umtrieb). Vereinfacht gesagt geht es dabei darum, zurückzuverfolgen woher eine bestimmte Ansicht oder vorherrschende Meinung kommt. Wo hat sie ihren Ursprung und warum wurde sie über die Zeit vorherrschend? Ziel ist aufzuzeigen, dass jede normative Lehre letztlich eine Frucht bestimmter Umstände ist, meistens gekoppelt mit irgendwelchen Machtansprüchen und damit nicht als absolut gelten kann. Einmal so entlarvt, kann diese Lehre dann dekonstruiert und damit 'irrelevant' gemacht werden.


[5] Klassischerweise sprach man von der moralischen Perspektive (Gott demonstriert seine Liebe und gewinnt dadurch die Herzen) und der Christus Victor Perspektive (Gott überwindet das Böse).

Siehe dazu meine Serie, die hier beginnt.


[6] Dieses Beispiel verdanke ich Timothy Keller aus seiner Predigt 'The Wrath of God', die ich übrigens auch allen Post-Evangelikalen empfehlen kann.


[7] John Stott hat das gut herausgearbeitet und bis dato hat das keiner (in meinen Augen) befriedigend widerlegt. 'Das Kreuz: Zentrum des christlichen Glaubens' ab Seite 169.

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