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  • matt studer

Starb Jesus wegen mir? Das Kreuz im Mittelalter und der Reformationszeit

Aktualisiert: 14. März 2022


Das Mittelalter wird manchmal als dunkles Zeitalter abgestempelt. Das gilt aber nicht für seine theologischen und künstlerischen Errungenschaften! Man denke doch nur an die gotischen Meisterbauten oder an Giottos Malerei oder Donatellos Skulpturen. Und gerade im Mittelalter wurden theologische Meilensteine gesetzt. Einer davon ist Anselm von Canterburrys «Cur Deus Homo – warum Gott Mensch wurde» (um 1094-1998 n. Chr.). Anselm verstand die Sünde der Menschheit als eine Verletzung der Ehre Gottes. Denn ein heiliger Gott kann Sünde nicht einfach tolerieren. Er muss eine Genugtuung oder Entschädigung (satisfaktio) dafür fordern. Warum kann Gott nicht einfach vergeben? Weil er sonst seine Ehre kompromittieren würde. Das menschliche ‘Problem mit Gott’ besteht aber gerade darin, dass der Mensch «nichts zu geben hat als Entschädigung für seine Sünde» (Cur Deus Homo, 1.20). «Niemand ist fähig eine Entschädigung zu zahlen welche die Menschheit erlösen würde außer Gott selbst … Doch die Verpflichtung eine Entschädigung zu entrichten ist beim Menschen und nirgends sonst.» (2.6) Wie kann dieser gordische Knoten gelöst werden? Nur Christus ist dazu fähig, da er sowohl Gott und Mensch ist und dadurch als Mittler in die Bresche treten und die Menschheit erlösen kann. Als sündloser Mensch erweist er seinem Vater die Ehre. Und durch sein Opfer gewinnt er einen Überschuss an Genugtuung, die er dann für die verlorenen Menschen einsetzt. So lautet die berühmt-berüchtigte ‘Satisfaktionslehre’ von Anselm in aller Kürze.


Anselms Gedanken finden in modernen Ohren nur schwer Anklang. Das tönt alles zu stark nach unaufgeklärtem Mittelalter, nach einer feudalistischen ‘Kultur der Ehre’, zu sehr nach einem Ritterstammtisch-Plädoyer. Das Bild, das Anselm von Gott zeichnet, ist zu dunkel, zu streng, zu wenig liebend für unsere heutige Zeit. Stephen Wellum bemerkt folgende Schwächen in Anselms «Cur Deus Homo» (siehe sein sehr zu empfehlendes Buch ‘Christ Alone’, 170). Einerseits ist Anselm zu stark auf den Aspekt der Ehre Gottes fixiert (vielleicht geprägt durch das feudale System seiner Zeit), anstatt dass er sich auf Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit fokussieren würde. Die Tatsache, dass Christus Genugtuung leistete, setzt er zu wenig in den Kontext des heiligen und gerechten Zorns Gottes, der Sünde nicht tolerieren und darum nicht in Beziehung mit dem Menschen treten kann. Der Gott Anselms tönt manchmal mehr wie ein gekränkter Macho, der seine Ehre vor anderen wiederherstellen will. Andererseits könnte Anselm mehr Gedanken über die Liebe Gottes verschwenden. Gerade dass der heilige Gott sündige Menschen zu sich rettet, ist definitiv in seiner Liebe begründet! Damit zusammenhängend erklärt uns Anselm nicht genau, wie Christus uns tatsächlich von unseren Sünden erlöst. Sein Fokus liegt auf der Wiederherstellung der Ehre Gottes, nicht auf der Wiederherstellung des Sünders in die Beziehung zum Vater durch und in Christus. Trotz all dem ist Anselms Werk richtungsweisend für die weiteren Entwicklungen in der Reformationszeit. Warum? Man könnte sagen, dass Anselm der ganzen Diskussion einen vertikalen Twist verlieh, indem er klar aufzeigte, dass der Kreuzestod Jesu fundamental mit Gott selbst und dem Menschen vor Gott zu tun hat.


In der Reformation wurde die Frage, wie Gott sich gleichzeitig treu bleiben und sündigen Menschen vergeben und mit ihnen in Beziehung treten kann, weitergedacht. Calvin tönt auf eine Art und Weise recht anselmisch in diesem Punkt: «Wer aber sich selbst wirklich erkennt und im Ernste erwägt, wer er eigentlich ist, der muss notwendig Gottes Zorn gegen sich heftig empfinden und sich deshalb ängstlich danach ausstrecken, ob und wie ihm vielleicht möchte Versöhnung zuteil werden. Denn es ist hier Genugtuung vonnöten; deshalb geht es um eine ungewöhnlich starke Gewissheit; denn Gottes Zorn bleibt unverändert auf dem Sünder lasten, bis er von der Schuld frei wird; Gott ist ja ein gerechter Richter, und er lässt sein Gesetz nicht ungestraft verletzen, sondern ist zu gerechter Vergeltung gerüstet.» (Institutio Christianae Religionis, II,16,1) Die Erlösung aus diesem Dilemma kann nur durch Christus geschehen, durch seinen Stellvertretungstod. «Wir haben in seinem Tode wahrhaftig bereits die ganze Erfüllung des Heilswerks, weil wir durch ihn mit Gott versöhnt sind, weil durch ihn Gottes gerechtem Urteil genuggetan, der Fluch aufgehoben, die Strafe getragen ist.» (II,16,13)


Auch Luther predigte in ganz ähnlicher Weise über die Bedeutung des Todes Jesu als stellvertretendes Opfer. «Es gab kein Heilmittel, ausser dass Gottes einziger Sohn in unsere Notlage treten würde und selbst Mensch werden würde, um unsere Last des schrecklichen und ewigen Zorns auf sich zu nehmen und seinen eigenen Körper und Blut als Opfergabe für die Sünde zu geben. Auf diese Weise hat er es getan, aus seiner unermesslichen Gnade und Liebe zu uns hat er sich selbst aufgegeben und die Strafe des nie endenden Zorns und Todes getragen.» (Epistel Predigt: vierundzwanzigster Sonntag nach Trinitatis, frei wiedergegeben)


Für die Reformatoren stand der stellvertretende Aspekt des Kreuzes an erster Stelle und bildetete das Fundament für ihre Theologie des Heils. Ja, Jesus erlöste auch von Tod und Sünde (Christus Victor Perspektive) und sein Kreuz bringt moralische Implikationen mit sich (moralische Perspektive). Aber das Allerwichtigste und Allererste, was das Kreuz tat war, uns mit Gott zu versöhnen!


Man sollte hier noch anfügen, dass die katholische Kirche dieser Zeit eine ganz ähnliche Auffassung vertrat, was das Kreuz anbelangt. Worin sie sich von der reformatorischen Kirche unterschied, betraf die Frage, wie die Erlösung, die Jesus durch seinen Tod erwirkt hatte, den Gläubigen zu Gute kommt. Nach katholischem Verständnis eignen sich die Gläubigen die erwirkte Gnade Gottes durch das Empfangen der Sakramente an - Gnade wird eingeflösst. Für die Reformatoren empfängt der gläubige Mensch Gottes Gnade durch den Glauben - Gnade wird in der Beziehung zu Gott als Geschenk empfangen.


Die Abkehr von der Stellvertretungsperspektive ereignete sich in der Zeit nach der Reformation. Siehe dazu den nächsten und letzten Beitrag dieser kurzen Serie.



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