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  • matt studer

Orthodoxie als Abenteuer - mit Trevin Wax


The key phrase of the Christian is not „I create“, but „I confess.“

(Trevin Wax - The Thrill of Orthodoxy)



Vor allem die sogenannten 'Bekenntnis-Christen' tragen das Image eines Besserwissers auf sich. Mit der Bibel in der Hand sind sie stets zum Kampf aufgelegt, die Wahrheit, die einzige und alleingültige Wahrheit zu verteidigen. Oder sind es vor allem die Theologen, die ihres Amtes wegen gerne über feingetunte Lehrpunkte streiten, die für den Normalo-Christen gar keine praktische Bedeutung haben? Wenn man schon über Glaubensinhalte streitet, man ist doch eh meistens gegen etwas, sieht nur die Gefahr der anderen Position und will sich mit den besseren Argumenten durchsetzen um Recht zu behalten (oder seinen Status zu bewahren). Das Streben nach Orthodoxie, nach dem 'rechten Glauben', klingt im besten Fall altmodisch und im schlechtesten Fall sogar gefährlich, arrogant und fundamentalistisch. Es mag ja sein, dass sich Christen in früheren Zeiten um die rechte Lehre bemüht, um das verbindliche Dogma gestritten haben und dass wir das 'Resultat' in der Form der Bekenntnisschriften der frühen Kirche für uns fruchtbar machen dürfen. Doch heute? Sollten wir uns aktuell nicht mehr um die Einheit unter Christen bemühen als darum, unsere Lehrpunkte auszudifferenzieren? Muss es uns angesichts der Lage der christlichen Kirche in einer Gesellschaft, die nichts mehr von Gott wissen will, nicht viel mehr um unsere Mission gehen, als um intramurale Debatten um die 'rechte Lehre'?


Trevin Wax wählt in seinem Buch The Thrill of Orthodoxy: Rediscovering the Adventure of the Christian Faith einen anderen Anfahrtsweg aufs Thema. Er spricht von Orthodoxie als einem Abenteuer, von einer Entdeckungsreise, von einem Eintauchen in eine Realität, die unsere eigene menschliche Kreativität übersteigt.



Orthodoxie: Abenteuer oder Langeweile?

Orthodoxie hat eigentlich nichts mit verstaubten Büchern zu tun, die einst geschrieben wurden, weil man damals nichts Besseres zu tun hatte, als sich zu streiten was gültig und wahr ist. So die These von Trevin Wax. Warum? Wir müssen sehen, dass der christliche Glaube von Anfang an einen Inhalt hatte und dass dieser Inhalt schriftlich festgehalten wurde. Der christliche Glaube ist nicht etwas Vages und Wortloses. Etwas, das man sich 'nur' durch einen mystischen Zugang aneignen könnte. Wir haben es mit einem Glauben zu tun, der den Heiligen 'ein für allemal überliefert wurde' (Judas 1,3), überlieft in den Worten Jesu und seiner Apostel. Und dieser Glaube (und/oder diese Worte) sind solide, wahr und zuverlässig. Orthodoxie hat damit zu tun, den Worten Jesu und der Apostel zu glauben und ihnen zu vertrauen. Mehr noch, sie zu ergründen und ihre Wahrheit für jede Zeit zu bewahren. (Insofern hat das Anliegen der Orthodoxie mit einem Buch zu tun, das - was seine Message betrifft - nie verstaubt, sondern stets aktuell und lebendig bleibt).


Orthodoxie meint in dem Sinne, dass wir uns diesem überlieferten Glauben widmen. Es geht dabei um eine Entdeckungsreise, wohlgemerkt. Der christliche Glaube wird nicht selbst erfunden oder aus biografischen Erlebnissen oder geistlichen Erfahrungen zusammengeschustert (auch wenn diese Dimensionen mit eine Rolle spielen). Er wird 'vorgefunden'. Trevin Wax fasst es wunderbar zusammen:

Orthodoxie ist ein Abenteuer des Entdeckens, nicht des Erfindens, und das sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Bei einer Entdeckung geht es darum, das ans Tageslicht zu bringen, was bereits vorhanden ist. Beim Erfinden geht es darum, etwas Neues zu schaffen. Etwas zu entdecken heisst, dass es etwas Reales, aber noch nicht Bekanntes gibt; Erfindungen aber beruhen auf der schöpferischen Fähigkeit unseres eigenen Geistes ... In dem Moment, in dem wir beginnen, über den richtigen Glauben, die richtige Lehre und die Ausrichtung unseres Herzens und Geistes auf diese christliche Lehre zu sprechen, befinden wir uns im Reich des Entdeckens. Wir sind auf etwas Echtes gestoßen. Wir sind auf etwas gestoßen, das wir nicht erschaffen haben. Wir sind auf einen Schatz gestoßen. Wir haben etwas vorgefunden, das wir nicht gemacht haben, aber das uns neu erschaffen wird, wenn wir uns darauf einlassen. (Seite 37)

Das würde dann ja heissen, dass der christliche Glauben etwas ist, dass ausserhalb von mir existiert. Etwas, das ich mir aneignen kann. Etwas, über das ich mehr erfahren kann, wenn ich bereit bin zu hören und zu lernen. Gleichzeitig hiesse das auch, dass dieser Glaube nicht etwas völlig Beliebiges ist, sondern ein konkret fassbares Gut, das Gott seiner Kirche anvertraut hat. Der christliche, ein-für-allemal-überlieferte Glaube hat feste Konturen und franst nicht einfach aus. Er wird uns in Worten überliefert, die wir verstehen können.


Unser gesellschaftliches Klima macht es uns schwer in diesen Bahnen zu denken. Lieber Ambiguität als klare Konturen. Lieber offene Fragen als klare Antworten. Das Geheimnis des Mysteriösen lockt doch viel stärker als die Eindeutigkeit eines historisch-christlichen Glaubens. Und wer von sich behauptet, er könne seinen Glauben schwarz auf weiss zu Papier bringen, ist doch ein Langweiler. Ein verschlossener Mensch, der halt einfach klare Leitplanken braucht, weil er nicht mit 'Wahrscheinlichkeiten' oder mit verschwommenen Grenzen leben kann. Doch ist nicht gerade diese ständige Offenheit, dieses sich nie ganz festlegen Wollen letztlich ermüdend und ja, langweilig? Trevin Wax berichtet über seine eigenen Erfahrungen mit dieser Sorte christlichen Glaubens, der sich mehr für Relevanz als für Orthodoxie interessiert:

Ich fand diese Vision des Christentums übermäßig domestiziert ... aller Ecken und Kanten beraubt und für moderne Westler schmackhaft gemacht. Bei allem Gerede über Aufregung und Abenteuer befanden wir uns wieder im klimatisierten Haus eines Glaubens, der auf zeitgenössische Sensibilitäten zugeschnitten war. (Seite 41)

Es tönt zunächst bescheiden, wenn jemand sagt, dass er die Wahrheit nicht in der Tasche hat oder dass sie sich 'auf einem Weg' befindet und nicht alle Fragen geklärt hat. Und es stimmt: Gott beantwortet uns nicht alle Fragen. Manches bleibt unerklärt, mysteriös und offen. Aber am Ende ist es ja nicht das Geheimnis, nicht all das, was wir nicht wissen können, sondern das, was wir von Gott erkennen können, das uns in Anbetung und Staunen versetzt. Gewiss, bei unserer Suche nach der christlichen Wahrheit geht es um eine Begegnung mit dem lebendigen Gott, nicht um eine rein mentale Zustimmung zu einem bestimmten Lehrsatz. Gerade darum ist es so wichtig, dass wir diesen Gott 'richtig' und wahrhaftig kennen und uns keine Karikatur von ihm auf den Arm tätowieren lassen. Wir machen uns kein eigenes Bild von Gott. Wir empfangen das Bild in der überlieferten biblisch-apostolischen Botschaft. Das ist das Anliegen der Orthodoxie! Und nur hier finden wir letztlich die Tiefe, das Geheimnis und den kognitiven Frieden, nach dem wir uns alle sehnen.


Wie langweilig und anstrengend es ist, wenn ich bei der Wahrheitssuche auf mich allein zurückgeworfen bin, selber zu entscheiden, was (für mich!) gilt. Wenn mein Glaube zu sehr ein Spiegelbild meiner selbst geworden ist, frage ich mich, ob es da nicht noch mehr zu entdecken gäbe, ausserhalb meiner gewohnten Gedanken. Das Abenteuer beginnt dann, wenn ich meine gewohnten Plätze verlasse und mich in die '(fremde) neue Welt in der Bibel' vorwage, wie Karl Barth es einst gesagt hat.



Von dogmatischen Besserwissern, Rechthabern und möchtegern Päpsten

Wer mir bis hierhin gefolgt ist, wird sicher noch das eine oder andere 'Aber' einzuwenden haben. So richtig knackig wird es aber erst jetzt. Ich versuche es einmal so zu formulieren: Wenn der christliche Glaube danach strebt, die göttliche Wahrheit 'da draussen' (damit meine ich, dass Wahrheit von Gott gegeben und nicht selber konstruiert ist) zu erkennen und zu bewahren, dann wird er sich auch dazu bequemen, gegen falsche theologische Entwicklungen vorzugehen. Trevin Wax formuliert es so:

Im biblischen Christentum geht es um die Entdeckung der Wahrheit – und damit auch um die Ablehnung von Irrtümern. (S. 40)

Vergessen wir nicht, es geht dabei um Gott, wie er ist, was er getan und wie er geredet hat. Wenn Menschen diesen Gott falsch darstellen, werden orthodoxe Christen emotional engagiert. Nicht weil sie sich von Haus aus gerne streiten, sondern weil sie es nicht mit ansehen können, wenn Gott in einem schlechten Licht dargestellt wird und weil es ihnen weh tut, wenn die Kirche als Folge des falschen Teachings leiden muss. Wax vergleicht diese Reaktion mit der eines Ehemannes, über dessen Frau in aller Öffentlichkeit falsche Gerüchte und Meinungen verbreitet werden. Würde ein guter Mann einfach schweigen?

Ebenso legen Christen Wert auf die Einzelheiten der Lehre, weil wir den Gott lieben, den diese Lehren beschreiben. Und wenn Lehrfehler Gott falsch darstellen, seinen Charakter verleumden, seine Macht leugnen oder sein Bild verändern, können Christen, die den Nervenkitzel der Orthodoxie erlebt haben, nicht anders, als zu reagieren. (S. 68)

Genau aus diesem Grund haben sich Theologen manchmal um ein einziges, winziges Wörtlein gestritten. [1] Diese Christen hatten nicht nur die Musse, sich einer akribischen Formulierung zu widmen, was Gott oder sein Erlösungswerk betrifft. Sie hatten daneben die Stirn, andere divergierende Gottesbilder vehement abzulehnen. Nicht 'Hauptsache es stimmt für dich'. Vielmehr 'wir ziehen eine Grenze zwischen biblischem Christsein und Häresie. Für uns ist das ganze eine öffentliche Angelegenheit!' Wenn unsere christlichen Vorfahren nicht so passioniert für die Orthodoxie an den Start gegangen wären, hätten wir heute ein verzerrtes Bild von Gott, wenn nicht die Kirche bereits Schiffbruch erlitten hätte. Damit will ich keinesfalls sagen, dass jede abweichende theologische Meinung mit Häresie gleichzusetzen ist. Wird dürfen und sollen hier unbedingt nuancierter sein (mehr dazu unten). Auch geht es nicht darum, einander den Glauben abzusprechen (auch wenn die Kirche schon auch ab und zu mal ein Anathema vom Stapel lassen konnte). Was ich sagen möchte ist, dass wir uns darum bemühen sollten zu ergründen, zu begründen und manchmal zu verteidigen, was wir eigentlich glauben und warum wir es glauben.


Jetzt leben wir aber in einem Milieu, das sich grundsätzlich recht schwer damit tut, wenn jemand sagt, er habe die für alle verbindliche Wahrheit 'entdeckt'. Selbst wenn es diese Wahrheit 'da draussen' gäbe, so richtig besitzen können wir sie ja doch nicht, munkelt man. Entgleitet sie uns nicht in dem Moment, in dem wir sie festzuhalten versuchen? Ist nicht alles sowieso nur Stückwerk, bruchstückhafte Erkenntnis des Gottes, der weit über unserem Verstehen thront? Ist nicht das, was ich als 'Wahrheit' erkenne, einfach meine Interpretation (ein anderer mag dies ganz anders gewichten und selbst zu gegenteiligen Ansichten kommen)? Ist nicht der Glaube, dass es den EINEN christlichen Glauben gibt, letztlich eine Illusion, der Fundamentalisten zu gerne auf den Leim gehen? Gibt es nicht einfach verschiedene (kulturelle) Ausprägungen des christlichen Glaubens, die alle mehr oder weniger ihre Berechtigung haben?


Zunächst einmal folgende zustimmende Bemerkungen. Ja, ich glaube, dass meine (und deine) Sicht auf die Wahrheit von meiner Perspektive her geprägt und daher begrenzt ist. Ja, ich bin fest davon überzeugt, dass ich und du Gottes Wesen niemals erschöpfend erkennen können. Und ja, ich meine, dass meine (und vielleicht auch deine) intellektuelle Kapazität begrenzt ist und wir an Grenzen des Verstehens stossen. Trotzdem bin ich nun mal altmodisch genug, trotzdem zu glauben, dass uns der Zugang zur Wahrheit trotz all dieser 'Einschränkungen' nicht verwehrt bleiben muss. Ich glaube, dass mein Glaube eine feste Zuversicht ist, verlässlich und wahr (Hebr. 11,1). Und ich getraue mich sogar mit dem römischen Zenturio ausrufen: 'Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!' (Mt. 27,54). Ich weiss schon, dass ich euch Relativisten damit nicht überzeugen kann. Die säkulare Welt will uns weismachen, dass alles, was wir als wahr empfinden, nur subjektiv von uns selbst konstruiert ist. Wir sollten besser nicht von Wahrheit, sondern von 'Wahrscheinlichkeit' reden. Was dabei gerne untergeht ist der Absolutheitsanspruch dieser Aussage: Wehe du behauptest, du kenntest die Wahrheit. Damit würdest du gegen das (absolute!) Credo verstossen, dass es keine Wahrheit geben kann (geben darf!). Denn die einzige 'Wahrheit', die in diesem Milieu noch zugelassen wird ist, dass es keine Wahrheit gibt. Das Anliegen der Orthodoxie prallt hier frontal auf.


Hinzu kommt, dass immer wieder mal die 'Wahrheit' gestreut wird, die Bibel sei doch in sich zu kompliziert und sowieso zu unklar in Bezug auf all die vielen Themen, auf die wir gerne eine Antwort hätten. Der Theologe Michael Ovey erkennt darin aber eine Strategie, die eigenen alternativen Sichtweisen so stillschweigend aufs Tapet zu bringen:

Die Behauptung, dass etwas unklar ist oder dass man es sowieso nicht wissen könne erlaubt es, die eigene Position recht dogmatisch zu vertreten und gleichzeitig sehr undogmatisch zu wirken. (zitiert auf S. 47)

Dieselben Leute, die so gerne sagen, dass die Bibel halt kompliziert, unklar und darum nicht so eindeutig zu lesen und interpretieren sei sind, was ihre Lieblingsthemen betrifft, alles andere als agnostisch. Dort wissen sie es dann ganz genau.



Orthodoxie führt in die Tiefe und in die Weite, aber 'Unwahrheit' engt ein

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum man sich für Orthodoxie einsetzen sollte: Der orthodoxe Glaube führt uns in die wahre Freiheit.


Klammer auf: Was heisst nun eigentlich orthodoxer Glaube? Meinen wir damit eine ganz spezifische Version des Christentums, halt eben die, die dem Autor dieses Blogs gerade heimelig ist? Nein. Orthodoxie meint, grob formuliert, den Glauben, wie ihn die Apostel und Propheten der Bibel formulierten und die christliche Lehre, die uns durch die Kirche übermittelt wurde. Wer etwas von Kirchengeschichte versteht, der weiss, dass diese 'Übermittlung' alles andere als nur geradlinig verlief. Gleichzeitig zeigt diese Geschichte jedoch auch, dass es der Kirche gelang, den 'apostolischen Glauben' zu bewahren und gegen aussen hin zu verteidigen. All die altkirchlichen Konzile hatten dieses eine Ziel: Die christliche Botschaft gegenüber emergenten Irrlehren zu verteidigen und zu bewahren. Die konziliaren Bekenntnisse zeugen davon. Und auch wenn im Laufe der Geschichte noch so manches Unkraut neben der orthodoxen Pflanze spriess und seine Blüten trieb, behauptete sich der orthodoxe Glaube, wurde stark, schwächelte dann manchmal, aber erholte sich immer wieder. Je länger ich vor allem die Schriften der Kirchenväter lese, desto mehr sehe ich ein Bild von einem christlichen Glauben, das im Grossen Ganzen kohärent und mit der Bibel deckungsgleich ist. Es gibt ihn, den christlichen Glauben, die orthodoxe Lehre. [2]


Wer den Zusammenhängen vertiefter nachgehen möchte, dem empfehle ich Trueman's The Creedal Imperative als Startpunkt - ein Buch, das der 'kirchlichen Übermittlung' dieser orthodoxen Botschaft nachgeht und dafür plädiert, dass wir ausformulierte Bekenntnisse brauchen, selbst heute noch. Gut, die Frage bleibt, was dann als 'orthodox' zählen darf und was nicht? Christian Haslebacher spricht von drei Varianten im Umgang mit dieser knackigen Frage: Erstens wäre da ein theologischer Minimalismus, der nur ganz wenige, minimale Faktoren zum verbindlichen Kern zählen würde, daneben grosszügig Toleranz und vor allem Freiheit walten lässt. Zweitens gäbe es den theologischen Maximalismus, für den auch sogenannte Randthemen (wie die Frage, ob unsere Erde in 6 Tagen oder während eines längeren Zeitraums erschaffen wurde) toleranzlos zum definierten Bereich der Orthodoxie gehören. Die mittlere Variante zeichne sich dann auf beide Seiten hin abgrenzend durch den Leitspruch 'Einheit in den Kernfragen und Toleranz bei den 'Randthemen' aus, wobei der Kern hier (vereinfacht formuliert) durch das definiert wird, was die Kirche über die Zeit als 'orthodoxe Lehre' bestätigt hat. Für mich steht fest, dass die evangelikale Bewegung von heute in Richtung theologischer Minimalismus neigt. Die zentrale Aufgabe, der wir uns stärker widmen sollten wäre, den evangelikal-orthodoxen Kern unseres Glaubens wieder klarer zu definieren. In anderen Worten, wir Evangelikalen müssen uns dem Ringen um Orthodoxie wieder passionierter hingeben, ohne dabei zu minimalistisch oder maximalistisch zu sein (denn auf die rechte Spannung kommt es an). Klammer zu.


Beim Ringen um den orthodoxen Glauben geht es um mehr als um meine persönlichen Präferenzen.

Wie wenn Religion kaum mehr wäre als (m)eine individuelle Spiritualität oder eine persönliche Vorliebe, wie etwa die Wahl einer Eissorte gegenüber einer anderen. Wer würde jemanden dafür verurteilen, dass er Vanille anstatt Schokolade wählt? Radiert die Trennlinie weg und heißt alle willkommen, die Eis mögen. (S. 40)

Das biblische Evangelium bedient nicht unsere persönliche Präferenzen. Es geht hier um konkrete historische Events und ihre Bedeutung für uns. Es geht dabei um Gott und seine Meinung der Dinge, um seine normative Anfrage an uns. Reagieren wir angemessen darauf oder unterdrücken wir seine Wahrheit (vgl. Römer 1,18ff)? Wenn moderne Freiheit heisst, dass ich für mich selber bestimme, was wahr ist oder was für mich funktioniert, so geht es beim orthodoxen Abenteuer viel mehr darum, innerhalb der von Gott gesetzten Leitplanken zu denken und zu handeln. Hierin liegt für den orthodoxen Abenteurer die wahre Freiheit. Nämlich die Freiheit in den von Gott festgesetzten Bahnen zu leben, die Gedanken Gottes nachzudenken, sich so zu bewegen wie es uns als geschaffene Wesen doch am allermeisten entspricht.

Die heutige Sichtweise von Freiheit besteht darin, zu tun was man will und sein eigenes persönliches Glaubensbekenntnis zu entwickeln. Aber diese Denkweise kann nicht anders, als (zu) eng zu sein ... Orthodoxie, so eng sie auch von außen aussehen mag, wird im Inneren größer. Die Regeln und Beschränkungen und die klaren Abgrenzungen geben uns die Freiheit, etwas zu erleben, was sonst unmöglich wäre. (S. 45)

Diese Aussage geht direkt gegen den Strich des heutigen Sentiment. Orthodoxie tönt doch viel eher nach Zwangsjacke, nach Kloster oder nach Montagmorgen nach den langen Sommerferien. Ich meine, das Gegenteil ist der Fall. Was wirklich einengt und klein macht, sind reduzierte, falsche theologische Lehren. Das Rezept geht in etwa so: Man nehme einen vitalen und wahren Teilaspekt der christlichen Wahrheit und destilliere ihn zur einzigen und wichtigsten Wahrheit. Dabei köchele man andere Teilaspekte auf kleinem Feuer bis sie verdunstet sind. Trevin Wax meint:

Mit der Zeit wird diese eine Wahrheit, die nun vom Rest der Orthodoxie getrennt ist ... zu einer Waffe gegen die anderen Wahrheiten des Christentums. Von allen anderen getrennt, wird sie zum unangreifbaren Fundament eines neuen Glaubensbekenntnisses. (S. 85)

Beispiele sind Legion. Sei es der liebende und gnädige Gott gegen den zornigen und richtenden Gott; der freie Wille des Menschen gegen die Allmacht Gottes; das Königreich gegen das Kreuz; Gott als Autor der Bibel gegen die menschlichen Autoren; die soziale Dimension des Evangeliums gegen die soteriologische Dimension; die Rechtfertigung des Gläubigen gegen gute Werke; Gottes Transzendenz versus Gottes Immanenz. Immer mutiert die Diskussionen zu einem Entweder-Oder. Und immer wird es letztlich eng, weil der ganzheitlich christliche Glaube reduziert wird. Hören wir noch einmal Trevin Wax:

Die Weite und Kohärenz der Orthodoxie übertrifft die Enge der Häresie in der architektonischen Form der christlichen Theologie. Orthodoxie kann, wie die Turmspitze und die Balken in einem gotischen Bauwerk, ein größeres und stärkeres Dach stützen. Häresie ist jedoch wie eine Reihe von Rissen, die dazu neigen, sich auf eine Weise zu vermehren, so dass mit der Zeit dem Gewicht dieser Schönheit nicht mehr standgehalten werden kann. (S. 99)


Ein Schlusswort für trockene Doktrinärler und moderne Zweifler

Wer kennt sie nicht, die Bibelchristen, die zwar die rechte Lehre bis ins Detail formuliert auf Papier haben, denen aber ein lebendiger Glaube abhanden gekommen ist? Trevin Wax hat uns ein ganz anderes Bild von Orthodoxie gemalt, eines, das uns an den Tisch des Lebens mit Gott einlädt. Dagegen warnt er von einem zu vertrockneten, verkopften 'orthodoxen Glauben':

Die Fähigkeit, die richtigen Worte zu rezitieren, ersetzt dann das persönliche Vertrauen in den Einen, den alle unsere Worte beschreiben. (S. 165)

Auf der anderen Seite werden auch die Zweifler eingeladen, die wahren Worte Gottes zu empfangen. Sie dürfen mit ihren Fragen und Zweifel kommen, ganz klar, wenn sie denn in ihrem Herzen nach der Wahrheit Gottes suchen. Denn dann werden sie befriedigende Antworten finden und vom Abenteuer der Orthodoxie angesteckt werden.



Verwandte Beiträge auf diesem Blog:


[1] Ich spreche hier von der trinitarischen Diskussion um das kleine griechische Wort 'homooúsios' (wesensgleich) gegenüber dem Wort 'homoioúsios' (wesensähnlich).


[2] Ein kritische Punkt betrifft die Frage, inwieweit die Reformation als eine 'Neuerung' des christlichen Glaubens oder aber als eine Rückbesinnung auf den wahren Glauben und als Gegenreaktion (eben Reformation) auf die Missstände der (in weiten Teilen nicht mehr orthodoxen) katholischen Kirche des Spätmittelalters gesehen werden muss.



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