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  • matt studer

Dekonstruktion: Warum wir theologische Kriterien brauchen

Aktualisiert: 13. Sept. 2023



Dekonstruktion des Glaubens ist ein komplexer Ansatz, der nicht in einem Satz zu definieren ist. Es ist wichtig zu betonen, dass Dekonstruktion einen offenen Raum für Reflexion, Diskussion und Erkenntnis und manchmal auch ein Aushalten von sich und Anderen braucht.

(Tobias Faix)



Es ist wieder mal Zeit für Dekonstruktion. Tobias Faix legt einen differenzierten Artikel vor, in dem er das Phänomen der Glaubensdekonstruktion multiperspektivisch unter die Lupe nimmt. Gerne klinke ich mich mit ein. Nicht um Klicks zu gewinnen, sondern weil es eine wichtige Angelegenheit ist und mir die Menschen, die mit ihrem Glauben 'ringen' am Herzen liegen. Und das meine ich ganz ungeheuchelt.


Faix unterscheidet zwischen Dekonstruktion und Dekonversion. Salopp gesagt entwickelt sich Glaube bei der ersten Variante in irgendeiner Form weiter, während dem Glauben bei der zweiten Variante ganz den Rücken gekehrt wird. Die Grenze zwischen den beiden D's bleibt dennoch irgendwie schwammig. Wann ist ein dekonstruierter Glaube eigentlich kein christlicher Glaube mehr, im Sinne einer Verbundenheit mit dem Glauben, wie in die Bibel und eine zweitausendjahrelange Tradition (in aller Unterschiedlichkeit und doch Gemeinsamkeit) formuliert? Es gibt offensichtliche Beispiele. Wie wenn Fritz Franz heute anstatt die Bibel lieber die Tripiṭaka des Buddhismus konsultiert und dabei Kundalini Yoga praktiziert. Dann hat er höchstwahrscheinlich doch nicht dekonstruiert, sondern den Glauben gewechselt, selbst wenn Jesus noch mit einem kleinen Abstellplatz in seinem Glaubenssystem vertröstet wird. Andere Beispiele sind vielleicht weniger klar: Wie wenn Susan Sosin aus der evangelikalen Ortsgemeinde in Kaffhausen einfach genug hat vom sonntagtäglichen Worship und ihre Spiritualität jetzt lieber allein unter den Bäumen des Waldes pflegen möchte, weil sie sich dort verbundener mit Gott fühlt? Oder wenn Max Mustermann aufgrund eines schweren biografischen Einschnittes 'sein' altes Gottesbild hinterfragt und nun darauf kommt, dass Gott noch ganz anders sein könnte als bisher angenommen? Ich möchte damit die (zum Teil sehr schmerzhaften) Erlebnisse, die den Dekonstruktionsprozess all der Susan's oder Max'ens auslösten, nicht herabmindern. Ich will nur die unbequeme Frage stellen, wie dehnbar der christliche Glaube ist, damit er seinem Namen noch gerecht wird? Ist Glauben eine private Angelegenheit, die nur mich etwas angeht, mit einem Schild 'kein Zutritt für sich kritisch Einmischende' davor? Noch anders gefragt, darf man Dekonstruktion theologisch werten, oder ist jeder rekonstruierte und neu-konstruierte Glaube legitim, solange er auf die Situation des Betroffenen passt?


Ich weiss, dieser Frage haftet bereits ein fundamentalistischer Stallgeruch an. So als ob es den Typ Mensch gäbe, der genau wüsst was echter und wahrer christlicher Glaube ist, schwarz und weiss auf dem Papier und für alle gleichermassen verbindlich. Trotzdem, geben wir nicht so schnell nach. Ich erinnere mich an Begegnungen, wo ich wohl besser vor 'dem eingeschlagenen Irrweg' gewarnt hätte als meinem Gegenüber seinen 'Glauben einfach zu glauben'. Ohne all seine Fragen und Zweifel abzutun, hätte ich dennoch klarer sein können: 'Ich verstehe, dass dein Glaube schmerzhaft herausgefordert ist. Dennoch bin ich überzeugt, dass du dein Gottesbild jetzt nicht deiner Situation 'anpassen' solltest, weil du Gott sonst nach deinem Bild erschaffst. Bleibt dran, ringe mit den schwierigen Bibelstellen, lies dieses Buch!' Oder: 'Es tut mir leid, dass du von deiner Kirche enttäuscht wurdest. Aber ich bin dennoch der Meinung, dass du 'Kirche' (allgemein verstanden als die Gemeinschaft der Gläubigen, die sich in irgendeiner Art und Weise auch institutionell organisiert) nicht einfach über Bord werfen solltest. Das täte deinem Glauben nicht gut.'


Das Spektrum von Dekonstruktion auf dem Spielfeld der evangelikalen Szene reicht von 'Weiterentwicklung, Vertiefung, Heiligung', bis zu 'recht dramatischen Veränderungen' sowie eines 'neu Denken's und Formulieren's' des überkommenen Glaubens. Manchmal wird die Tapete einfach etwas ausgebessert und an Stellen erneuert. Manchmal wird das ganze Gebäude abgerissen und an einem neuen Ort wiederaufgebaut. Und um diese Situation besser einzuordnen, brauchen wir neben philosophischen, soziologischen oder psychologischen Kriterien unbedingt auch ein theologisches Raster. Ergo dieser Artikel.



Dekonstruktion und meine Biografie: Näher zu Gott und in die Christusnachfolge?

Faix meint:

Denn wir entwickeln uns nicht linear und geplant, sondern wir unterliegen, neben aller entwicklungspsychologischen Entwicklung, kontextuellen Einflüssen. Plötzlich haben wir Zweifel an Glaubenssätzen, die bisher nie hinterfragt wurden oder erleben Leid, das uns Gott als liebenden Vater nicht mehr plausibel erscheinen lässt.

Wer könnte den Weg eines Menschenlebens durchschauen, geschweige denn planen? So Manches geschieht abrupt, ungeplant, ja ungewollt. Und trotzdem, die Bibel sagt uns, dass unser Leben nicht irgendeinem unpersönlichen Schicksal ausgeliefert ist, dass mit uns halt macht was es will. Psalm 139,3: 'Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt; du bist vertraut mit all meinen Wegen.' Das ist grundsätzlich eine gute Nachricht. Unser Leben und unser Glauben liegt in Gottes Händen. Was sich für uns manchmal nicht linear und zick-zack-mässig anfühlt, Gott weiss darum und sorgt vor.


Es liegt auf der Hand, dass das Leben uns prägt. Intensive Zeiten, schwierige Ereignisse, grosse Momente wirken auf uns ein, beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln und können uns auch manchmal aus der Bahn werfen. Leugnen und Unterdrücken hilft nicht weiter. Sonst kommt es später unverdaut wieder hoch - und dann vielleicht noch schlimmer. Der Psalmist hält sich wohl dafür, seine negativen Gefühle und Zweifel Gott gegenüber auszudrücken. Tun wir es ihm also gleich. Was aber, wenn solche Ereignisse an unserem Glaubensfundament zu rütteln beginnen? Wenn der Glaube ex post nicht mehr passt? Im Groben (mit vielen Zwischenschattierungen) sehe ich hier zwei mögliche Endergebnisse, die sich am Ende eines Ringens im Destruktionstunnel abzeichnen.

  • Unser Glaube wird 'gereinigt', von Schlacke befreit, reiner, echter, ehrlicher, tiefer. Das heisst, dass ungesundes (weil nicht-biblisches, nicht-von-Gott-intendiertes) Material wegfällt, weil es dem Feuer der Prüfung nicht standhält.

  • Oder aber unser Glaube wird 'gerädert' (kommt unter die Räder), bekommt Risse, bricht am Ende auseinander. Wir werden bitter, zweifelnd und glaubenslahm.

(Ein plakatives) Beispiel: Stell dir vor, du läufst mit einer aufgeblasenen 'Health & Wealth' - Überzeugung durchs Leben. Du glaubst, dass es Gottes Job ist, dich in deinem Leben vor jeglichem Schaden zu bewahren und dazu noch mit einem unendlichen (materiellen) Segen zu überschütten. Aber dann wirst du plötzlich von einem persönlichen Schicksal betroffen. Und nun hast du entweder die Möglichkeit, deinen bisherigen Glauben zu 'überdenken' und biblisch zu 'reframen': Leid gehört jenseits von Eden zum Leben dazu, selbst wenn du Christ bist - die Bibel ist total realistisch und sie lehrt dich mit leidvollen Momenten gut umzugehen und daran zu wachsen. Deine Beziehung zu Gott vertieft sich sogar, im Leiden und durch das Leiden. Oder aber du verzweifelst an der Situation und an deinem Glauben, wirst wütend auf Gott, weil er nicht das tut, was er eigentlich tun sollte. Deine Beziehung zu Gott entfremdet sich und du weisst nicht mehr so recht, ob du noch mit einem Gott zu tun haben willst, der deine Leiden zulässt. Und was am Ende bleibt ist die grosse Desillusion.


Vielleicht ist das Beispiel zu einfach weil zu extrem. Ist das Endergebnis wirklich immer so klar entweder 'vertiefter Glaube' oder dann 'kein Glaube mehr'? Vielleicht gibt es auch noch Zwischenstadien, Phasen des Zweifels und verschiedene Rekonstruktionsversuche, die scheitern, bis man dann den richtigen Weg findet? Gewiss. Manchmal gehen wir eben durch tiefe Täler der geistlichen Depression, nur um am Ende der Nacht das aufgehende Sonnenlicht um so mehr aufzusaugen und zu geniessen. Trotzdem - und auf die Gefahr hin zu simpel zu sein: Unser Glaube wird sich auf kurz oder lang vertieften, wachsen und Frucht bringen, oder er wird abflachen und versanden. Unser Leben, alle Erfahrungen, alle äusseren Einflüsse, denen wir ausgesetzt sind, haben das Potenzial, uns in die eine oder andere Richtung zu stupsen.


Unsere Aufgabe, wenn das Chaos des Lebens unseren Glauben erschüttert, ist es, unser Herz von Gott und seinem Wort prüfen zu lassen: 'Sein Wort ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.' (Hebr. 4,12) Vielleicht bringt Gott uns ja in eine Situation, die uns zeigt, dass wir uns in einem Punkt unseres Lebens gegen ihn auflehnen? Sind wir bereit diesen Punkt Gott hinzuhalten und frei zu werden? Um tiefer wachsen zu können müssen wir uns an die 'Realität der Bibel' halten, manchmal sogar gegen unsere Erfahrungen. Das tönt zwar vielleicht krass, ist aber weit realitätsnaher als das Sentiment unserer Zeit, dass unser 'inneres Gefühl' immer Recht hat. So ging es jedenfalls dem Psalmendichter Asaph, der fast gestrauchelt und dessen Tritt beinahe ausgeglitten wäre, weil er sich ereiferte, dass es den 'Frevlern' so gut ging, ihm aber so schlecht. Er klagte 'authentisch' vor Gott:

Siehe, das sind die Frevler; die sind glücklich für immer und werden reich.  Soll es denn umsonst sein, dass ich mein Herz rein hielt und meine Hände in Unschuld wasche? (Psalm 73,12-13)

In anderen Worten, 'was bringt mir der ganze Schlauch eines guten Christenlebens, wenn ich so wenig davon habe.' So war sein Erleben, seine momentane Erfahrung. Und was tat Asaph jetzt? Er hätte ja nun einen guten Grund gehabt seinen Glauben zu dekonstruieren und seine 'christlichen Bemühungen' herunterzuschrauben und anzupassen. Doch Asaph ging in den Tempel und setzte sich der Gegenwart Gottes aus. Dort erkannte er, dass Gott am Ende über alle Frevler richten würde und dass sein persönliches Glück nicht in einem easy life, sondern nur bei Gott liegt! Man könnte sagen, Asaph wurde mit der Realität Gottes und damit der Realität dieser Welt konfrontiert - und sein Leben und Herz wurden neu auf diese Realität hin ausgerichtet. Und so lautete dann auch sein Fazit (Verse 21-24):

Als es mir weh tat im Herzen und mich stach in meinen Nieren, da war ich ein Narr und wusste nichts, ich war wie ein Tier vor dir. Dennoch bleibe ich stets an dir; du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende mit Ehren an.

Alle unsere Glaubenskrisen und biografischen Einschnittsmomente sind dies auch: Gute (wenn auch ebenfalls schmerzhafte) Möglichkeiten, uns einem göttlichen Realitätscheck auszusetzen, uns näher zu Gott ziehen zu lassen und tiefer in die Realität eines biblischen Christseins einzutauchen.


Das erste Kriterium für eine 'gesunde Dekonstruktion':

Führt meine biografische Phase der Dekonstruktion mich näher zu Gott, einem grösseren Vertrauen, einer tieferen Anbetung, einer wachsenden Liebe zu ihm und seinem Wort sowie einem heiligeren Lebenswandel? Oder bringt sie meinen Glauben zum wackeln, weiter weg von Gott, dem ich plötzlich nicht mehr so recht vertrauen kann, stärker ins Grübeln und Zweifeln? Ersteres wäre gesund, letzteres auf Dauer ungesund.



Dekonstruktion und meine Kirche: Aber was, wenn meine Kirche 'toxisch' ist?

Gerade wenn es um Machtmissbrauch geht, geht es nicht nur um Personen, sondern auch um ungesunde Strukturen und theologische Dogmen, die Grenzüberschreitungen begünstigen und manchmal überhaupt erst ermöglichen und geistlich rechtfertigen. (Faix)

'Die toxische Institution der Kirche ist der Grund für den Schiffbruch meines Glaubens. Ich muss mich zuerst von der Kirche befreien, damit ich wieder gesund glauben kann.' Oder: 'Ich wurde jahrelang indoktriniert und eingeengt, so dass sich mein persönlicher Glaube nicht frei entfalten konnte.' Dieses Lied tönt heute in allen digitalen Gassen in einer nicht zu überhörenden Lautstärke. Und dies nicht nur zu Unrecht. Es ist hier nicht der Platz das 'Problem der Kirche' zu diskutieren (dazu hier ein paar Gedanken von mir zur Kirche). Was ich sagen will ist, dass es leider Gottes und unter gewissen Umständen wirklich nötig ist, eine kirchliche Gemeinschaft zu verlassen. Die Gründe dafür sind sorgfältig zu prüfen. Es ist total nachvollziehbar, dass man in der Folge über die Bücher seines Glaubens gehen muss. Und wahrscheinlich ist es dann auch angebracht, von 'Befreiung' zu reden.


Gleichzeitig, unsere Gesellschaft ist fast schon 'besessen' von 'Machtproblemen'. Hinter jedem Busch, in jeder Institution und sobald irgendwo eine Autoritätsstruktur auftaucht, meinen wir ein (toxisches) Machtgefälle zu erkennen, das es dringend zu entlarven gilt. Vielleicht bin ich zu sarkastisch (und es bräuchte definitiv weitere Beiträge, um dieses heisse Thema zu vertiefen). In all dem dürfen wir Eines nicht vergessen: Den christlichen Glauben gibt es nur in der Kirche (früher hätte man gesungen warum's denn nicht auch als Solochrist geht?). Aber trotz all der möglichen und unmöglichen Gefahren rund um die Erscheinung der Kirche als Institution, sollten wir in der heutigen Zeit nach Formen suchen, Kirche so zu leben und zu gestalten, wie es im Neuen Testament auf jeder Seite durchdrückt: im Kollektiv.


Darum diese Frage: in welche Richtung dekonstruieren wir? Führt uns unser Glaube in die kirchliche Gemeinschaft oder weg von ihr? Diese Frage ist post-Corona noch dringender zu stellen. Tobias Faix spricht davon, dass wir andere Christen mit ihren vielleicht anderen Glaubensvorstellung 'aushalten' sollen. Ich meine, dass die Lokalkirche der beste Ort ist, um dies zu lernen. Hier, in der Lokalgemeinde bin ich mit Menschen zusammengestellt, die nicht nur anders denken, sondern vielleicht aus einer komplett 'anderen Welt' wie ich kommen. Wo sonst kommen Banker und Künstler, Umweltaktivisten und Autoverkäufer, Intellektuelle und solche, die es gerade nicht sein wollen zusammen? In einer sich zunehmend polarisierenden Gesellschaft strahlt diese diverse Gemeinschaft der Kirche - wenn man einander denn 'aushält' - gewaltig in die Welt aus. Und gleichzeitig hier, in meiner Lokalkirche, darf ich auch lernen mich einzuordnen und sogar unterzuordnen, im Sinne von Hebräer 13,7 (oder 1. Petr. 5):

Denkt an eure Vorsteher [Leiter], die euch das Wort Gottes verkündet haben; schaut auf das Ende ihres Lebens, und ahmt ihren Glauben nach!

Das zweite Kriterium für eine 'gesunde Dekonstruktion':

Führt mein Glaubensweg mich in die kirchliche Gemeinschaft oder nur in eine chambre séparée, wo ich auf mich allein gestellt und nach meinem Gutdünken meine spirituellen Übungen praktiziere? Ersteres wäre gesund, letzteres auf Dauer ungesund.



Dekonstruktion und der 'ein für allemal überlieferte Glaube': Näher zur Bibel und zum historischen Christentum?

Es gibt Menschen, die mit ihrem bisherigen Glauben nicht mehr leben können, er trägt nicht mehr in den Fragen und Krisen ihres Lebens. Deshalb müssen sie diesen Glauben hinterfragen, um ihren Glauben zu „retten“. Dies erscheint konservativen Christen ... oftmals fast wie eine Provokation, aber ich würde das gerne so stehen lassen, ohne, dass es einen Anspruch gibt, dass alle Anderen dies auch so erleben müssen. (Faix)

In anderen Worten, konservative Christen fühlten sich provoziert, sobald man an ihren dogmatischen Eckpfeilern zu rütteln beginne. Aber was doch wirklich zähle ist nicht, ob jemand 'dogmatisch' (was die christliche Lehre betrifft) richtig liegt, sondern ob ihm seine Theologie oder seine Vorstellung von Gott persönlich weiterhilft (und er dadurch 'seinen Glauben retten kann'). In diesen Aussagen zeigt sich für mich recht deutlich, warum es so unendlich schwierig ist, dass 'Konservative' und 'Progressive' an einen Tisch sitzen und zu einer gemeinsamen Lösung finden werden.


Vielleicht hilft diese kurze Gegenüberstellung dazu weiter:

  • Progressive: Auf die Dogmatik und die richtige Lehre darf es nicht ankommen. Das Fundament des christlichen Glaubens ist keine Lehre, sondern die Person Jesus Christus. Vielmehr, den 'richtigen Glauben' oder die 'richtige Lehre' gibt es ja gar nicht, nur diverse Lehren und Theologien in Mehrzahl, je nach Person oder Kontext oder Zeit. Darum, lasst uns doch unser Theologie-Gebäude dekonstruieren und es dann munter wieder neu aufbauen, so dass es besser in unsere Landschaft passt.

  • Konservative: Ja, das Fundament des christlichen Glaubens ist Jesus Christus und unsere Beziehung zu ihm. Dabei kommt es sehr wohl darauf an, wie wir über Jesus (und Gott) denken und reden. Wir nennen das die rechte Lehre. Und dieser rechte Glauben oder die 'richtige Lehre' besteht nun mal in den unaufgebbaren Inhalten des christlichen Glaubens, wie wir sie in den Bekenntnissen nachlesen können. Das Christentum hat klare Konturen. Gewisse Dinge sind unverrückbar. Die Bibel lässt sich nicht beliebig auslegen - nicht jede Auslegung ist legitim. Ok, manches ist schwierig zu verstehen und doch ist einiges genug klar offenbart, so dass wir keine Ausrede haben. Darum: Es gibt ihn, den Unterschied zwischen rechter und falscher Lehre. Es ist entscheidend und wichtig was wir glauben. Mehr noch, wir dekonstruieren auf eigene Gefahr, wenn wir zentrale Glaubensinhalte abbauen.

Mag sein, dass diese Gegenüberstellung provoziert, aber ich möchte sie mal so stehen lassen.


Wenn es den 'überlieferten' christlichen Glauben denn wirklich gibt; den Glauben, den Gott 'den Heiligen ein für allemal anvertraut hat' (gemäss Judas 1,3), dann kann es sich hier nicht um einen Selbstbedienungsladen handeln (ich nehme mir etwas von dem und etwas von diesem und köchele damit mein eigenes Glaubens-Süpplein nach meinem Gusto). Nein, dann ist der christliche Glaube tatsächlich etwas, das wir entdecken und vorfinden - nicht etwas, das wir selbst erfinden (siehe dazu diesen Beitrag). Bei all den Schwierigkeiten, die Bibel 'richtig' zu verstehen, all den unterschiedlichen Auslegungen, die da so kreuchen und fleuchen, ich will dabei bleiben: Der christliche Glaube kann nicht unendlich ausufern (irgendwo gibt es Grenzen - und es gibt auch eine klare Mitte). Sonst müssten wir das Attribut 'christlich' ganz weglassen. Doch versteht es sich von selbst, dass Progressive und Konservative sich nicht darauf einigen können, was die Mitte (wenn es um eine genauere Definition geht) oder die Grenzen des christlichen Glaubens sind.


Bei vielen Dekonstruktionen im 21. Jahrhundert handelt es sich um solche, die ihren 'konservativen' Glauben aufgeben ('retten') wollen und dafür in einem 'progressiveren' Milieu nach Antworten suchen. Auf jeden Fall meine ich das so zu beobachten. Und auch hier sollte man den Einzelfall anschauen: Warum trägt der 'konservative' Glaube nicht mehr? Welche Fragen stehen im Vordergrund und lösen die Zweifel aus? Warum findet man Antworten nicht im 'konservativen' Setting (oder sucht vielleicht nicht einmal dort)?


Dabei müssen selbst wir Schweizer hier die Frage nach der Neutralität stellen. Wenn wir am theologischen Gerüst unseres Glaubens herumwerkeln, ist das keine neutrale Sache. Aber oftmals wird es so propagiert: 'Mag ja sein, dass Patrick nicht mehr an ... glaubt. Ella hat sich von ... emanzipiert. Manuel sieht ... jetzt kritisch.' Ist ja nicht so wichtig. Hauptsache es hilft Patrick, Ella und Manuel auf ihrem Weg weiter. Häufig wird sogar impliziert, dass das Neue fast automatisch besser, authentischer und näher an der Realität der Menschen ist. (In einem Nebensatz wird dann den Konservativen noch zugestanden, dass es gut für sie ist, wenn ihnen ihr 'konservativer Glaube' weiterhilft.) Doch dabei könnte das, was Patrick nicht mehr glaubt, wovon Ella sich emanzipiert hat und was Manuel kritisch betrachtet gerade ein zentrales Gut des christlichen Glaubens gewesen sein, das man unter keinen Umständen aufgeben darf. In anderen Worten, (theologische) Dekonstruktion ist kein Hobby für Freidenker und neutrale Schweizer. Es geht dabei um die Wahrheit, die Gott uns offenbart hat und an der wir festhalten sollen, 'damit wir im Glauben wachsen und in jeder Hinsicht mehr und mehr dem ähnlich werden, der das Haupt ist, Christus.' (Eph. 4,15) Wir müssen uns fragen: Deckt sich mein Glaube (inklusive meine de- oder rekonstruierte Theologie) mit der Wahrheit der Bibel und den Bekenntnissen der christlichen Tradition? Dekonstruktion braucht theologische Checkpoints. Solche Barrieren, die sagen: 'Stopp, hier gehts nicht weiter!' Oder solche Wegweiser, die zeigen 'hier geht's lang'.


Klar ist es wichtig und heute auch unbedingt notwendig geworden, dass (theologische) Fragen aller Art gestellt werden dürfen - auch und gerade im kirchlichen Setting. Das Ziel allen Fragens ist dabei aber nicht, in einem Meer der Ungewissheiten zu landen, sondern im Glauben gefestigt und in der Lehre mündig und stabil zu werden.

Denn wir sollen keine unmündigen Kinder mehr sein; wir dürfen uns nicht mehr durch jede beliebige Lehre vom Kurs abbringen lassen wie ein Schiff, das von Wind und Wellen hin und her geworfen wird, und dürfen nicht mehr auf die Täuschungsmanöver betrügerischer Menschen hereinfallen, die uns mit ihrem falschen Spiel in die Irre führen wollen. (Eph. 4,14)

Das dritte Kriterium für eine 'gesunde Dekonstruktion':

Führt mein Weg mich kontinuierlich in die Tiefe der biblischen Lehre, so dass ich keine Muttermilch, sondern feste Nahrung zu mir nehmen kann, mehr und mehr unterscheiden kann was gut und der Wille Gottes ist? Oder führt meine Dekonstruktion mich je länger je mehr in eine undefinierte Weite ohne klaren Horizont, mit weiteren Fragen aber keinen Antworten, so dass ich je länger je weniger etwas über Gott aussagen kann? Ersteres wäre gesund, letzteres auf Dauer ungesund.



Dekonstruierst du noch oder glaubst du schon?

Am Ende dieses Beitrages sollte uns klar geworden sein: Dekonstruktion braucht (auch) theologische Kriterien, damit wir unterscheiden zu können, in welche Richtung wir uns bewegen und ob das gut ist oder nicht. Solche Kriterien könnten uns dann helfen, unsere Motivation des Fragens und Suchens besser zu begreifen. Denn es gibt im Wesentlichen zwei Arten des Fragens, wie Trevin Wax so treffend feststellt:

Fragen sind nie nur Fragen. Unsere Herzen sind nicht einfach neutral. Das Feiern des Zweifels in unserer Generation geht nicht angemessen auf die selbstrechtfertigenden Tendenzen des menschlichen Herzens ein. Das Problem beim Feiern von Zweifeln ist die Annahme, dass es tatsächlich keine unterschiedlichen Arten von Fragen gibt. Man geht davon aus, dass alle Fragen gleich sind, als ob die eigenen Motive immer rein und unschuldig wären. Aber der Geist hinter einer Frage kann entweder Glaube sein, der nach Verständnis strebt, oder Unglaube, der sich zu rechtfertigen sucht.
(The Thrill of Orthodoxy, 167)






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