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  • matt studer

Wer von uns hat eigentlich das Monopol auf den richtigen Glauben?

Aktualisiert: 4. Okt. 2023


Holt euch die Bibel zurück! Holt sie euch von denen zurück, die meinen, sie hätten ein Monopol auf ihre sachgemässe Auslegung.

(Michael Diener, aus seinem Buch Raus aus der Sackgasse)



Wer meinen letzten Beitrag über Orthodoxie gelesen hat, wurde mit der selbstbewussten Behauptung konfrontiert, dass es so etwas wie einen 'richtigen Glauben' gebe. Vielleicht noch 'schlimmer', dass der christliche Glaube ein Innen und Aussen kennt und sich sogar anmasst, zwischen orthodoxen und häretischen, oder zumindest 'fehlerhaften Aspekten' der christlichen Lehre zu unterscheiden. [1]


Aber macht eine derartige Behauptung in einer pluralistischen Welt noch Sinn? Gibt es nicht einfach deinen und meinen Glauben, diese Tradition und jene Frömmigkeit? Seien wir uns bewusst: Die Postmoderne ist als philosophische Bewegung zwar längst post, aber ihr Lebensgefühl hat sich uns aufgedrängt. Wir sind Skeptiker und glauben längst nicht mehr an eine universale Meta-Narrative. Vielmehr glauben wir, dass jedes Dorf seine eigene Welt-Erkärungs-Story hervorbringt, die in ihrem Kontext Sinn macht. Wir sind agnostisch, was absolute Wahrheit betrifft. Anstatt absolute Wahrheit tönt relative Wahrscheinlichkeit so viel bescheidener. Und ist es nicht zudem so, dass es - immer wenn von absoluter Wahrheit die Rede ist - unterschwellig um Machtspiele geht? Wer die Wahrheit bestimmt, regiert und knechtet andere unter 'seine Wahrheit'.


Die Behauptung der Orthodoxie wirkt hier diagonal, geradezu antagonistisch. Ich finde es absolut spannend, dazu die Bewegungen in der evangelikalen Szene zu beobachten. Da sind auf der einen Seite die alteingesessenen Konservativen. Sie beanspruchen die reine, orthodoxe Lehre für sich: 'So wie wir glauben war es doch immer schon und soll es auch immer sein!' Daneben gibt es die (welt-) offenen Progressiven. Sie wollen neue Türen im Glauben aufstossen und so manche der evangelikalen 'Altlasten' hinter sich lassen. Damit gemeint sind 'alte Wahrheiten', die heute nicht mehr länger zu tragen scheinen. Der Leitspruch lautet: 'Christlicher Glaube muss sich weiterentwickeln und auf unsere Welt eingehen.' Welche der beiden Gruppen liegt nun näher bei der Wahrheit? Und natürlich gibt es ganz, ganz viele Evangelikale in der Mitte des Spektrums (die grosse Mehrheit?), die nicht so starr an allen alten Zöpfen festhalten, für die es aber dennoch unerlässlich ist, sich auf einen orthodoxen Glauben berufen zu können, auf Glaubensinhalte, die man nicht dem Wandel preisgeben will, auf einen Kern von Wahrheit, der für alle und zu allen Zeiten verbindlich ist.



Der neue Progressivismus: 'Jeder Glaube ist massgeschneidert und Kind seiner Zeit'

Das evangelikale Schiff befindet sich in einer (Schief)Lage, in der so manche sich lieber in die Beiboote begeben, weil das grosse Schiff ihrer Ansicht nach in eine falsche Richtung fährt. Nur, wer kann uns sagen, welches denn die richtige Richtung wäre? Der progressive Vorwurf lautet ungefähr so: 'Ihr Evangelikalen konservativer Couleur meint doch, dass ihr den 'wahren' und 'ursprünglichen' Glauben habt. Dabei verwechselt ihr eure gewohnten Traditionen mit der Wahrheit. Denn auch euer Glaube ist letztlich ein Kind seiner Zeit, nur dass diese Zeit halt schon etwas weiter zurückliegt.' Martin Benz formuliert es so:

Die Tragödie ist, dass die lange Dauer dieser ... Glaubensvorstellungen – und damit die Tradition – die verblendende Wirkung hat, man sei im Besitz eines ursprünglichen, biblischen und keinesfalls maßgeschneiderten Glaubens. Maßgeschneidert ist ja immer nur der Glaube der anderen.

Gemäss Benz und Co. müssten wir endlich einsehen, dass es diesen ursprünglichen, reinen, unverfälschten Glauben, die reine Lehre oder das wahre Dogma gar nicht gebe. Denn: Kein Glaube sei einfach so 'vom Himmel gefallen'. Alles ist Tradition.

Auch evangelikaler Glaube ist maßgeschneiderter Glaube! Niemand hat einen vollkommen ursprünglichen, unbearbeiteten Glauben. Evangelikale haben einen ebenso maßgeschneiderten Glauben wie Progressive.

In anderen Worten, die konservativen Bemühungen um Orthodoxie, darum, die 'wahre christliche Lehre' gegenüber den Postevangelikalen zu verteidigen, sei nichts anderes - so der Vorwurf - als der blinde Versuch, die eigenen, 'subjektiven' Glaubenswahrheiten nicht aufgeben zu müssen. Dabei würden diese traditionell-evangelikalen 'Wahrheiten' längst nicht mehr für alle Sinn machen. Wenn sich jemand also weiterentwickeln wolle, heisse das nicht, dass er den 'wahren Glauben' aufgebe, sondern dass er nach einer Form dieses Glaubens suche, die zu seiner jetzigen Lebensphase passt.


Ich erkenne in diesen Vorwürfen (mindestens) zwei wichtige Zutaten der postmodernen Spielart:

  • Alles ist Auslegung, alles bleibt subjektiv: Es gibt nicht die eine, reine und objektive Wahrheit. Wir alle müssen die Bibel ja erstmals auslegen. Und wenn wir die Bibel auslegen, landen wir bei grosszügiger Vielfalt und nicht bei enger Einstimmigkeit.

  • Alles ist kulturell gefärbt, vielleicht sogar biografisch determiniert: Es gibt keinen ursprünglichen Glauben. Jede Ausformulierung des Glaubens geschieht in einer bestimmten Zeit, unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen und der eigenen biografischen Prägung.

Wenn diese beiden Grundannahmen stimmen (und wer kann uns sagen, dass sie objektiv wahr sind?), bleibt nur eins übrig: eine grosse Vielfalt ohne rechte Einheit; mannigfaltige Glaubensüberzeugungen, die je nach Setting besser oder schlechter funktionieren. Dann wäre der progressive, postevangelikale Glaube vielleicht näher bei unserer Zeit und unseren kulturellen Präferenzen (zumindest den Präferenzen der westlichen Kultur) und damit relevanter und sinnvoller für heute. Vielleicht. Aber vielleicht beschreiben diese 'postmodernen Wahrheiten' (alles ist subjektiv, alles ist persönlich gefärbt usw.) einfach nur einen Teil der menschlichen Realität und enthalten uns wichtige Aspekte vor (es gibt trotz Vielfalt auch Einheit, nicht alles ist relativ, die Bibel ist objektiv wahr, auch wenn wir darum ringen müssen sie zu verstehen, usw.) ...


... und auf der anderen Seite der 'konservativ-fundamentalistische Traditionalismus': 'Unser Glaube ist objektiv richtig und steht 'über' jeder menschlichen Kultur'

In aller Kürze: Diese Art von (evangelikalem) Christentum entspricht häufig dem Feindbild der Progressiven. Diese Christen halten alles, von ihrem ausformulierten Bekenntnis bis zu allen ungeschriebenen liturgischen Varianten (wie man richtig betet, ob es nun Text- oder Auslegungspredigten sein sollen, ob man beim Abendmahl Wein oder Traubensaft nimmt oder welches WC-Papier man benutzt) für geschriebenes und ungeschriebenes Gesetz, für die unverfälschte Wahrheit und die ursprüngliche Form des Christentums. In diesem Lager differenziert man kaum zwischen Kern und Rand, zwischen 'diese Lehre ist für alle verbindlich' und 'das ist eine Sache deines persönlichen Gewissens'. Hier gibt es keine verschiedenen Auslegungen, nur die eine, reine Wahrheit. Und hier versteht man seine kulturelle Ausprägung des Glaubens als die einzig mögliche Form der christlichen Nachfolge. Von diesem Evangelikalismus wollen sich Progressive zurecht distanzieren. Nur dass sie häufig mit einem stark über-skizzierten Feindbild operieren (erinnern wir uns an die grosse mehrheitliche Mitte, die nicht so unbeweglich ist, wie es die Skizze will).


Man sollte hier fair sein. Ja, es gibt solche Gemeinden und Strömungen in Evangelikalien, die man häufig (nicht unproblematisch) als fundamentalistisch bezeichnet (siehe dazu diesen Beitrag). Und wenn es diese Art von Kultur nicht in Reinform gibt, dann gibt es doch Tendenzen in diese Richtung. Auf der anderen Seite erlebe ich, wie schon gesagt, dass viele Gemeinde und Bewegungen sich für Veränderungen öffnen und nicht starr am hinterletzten Aspekt ihrer Gemeindekultur festhalten.


Nun geht es zunächst gar nicht einmal darum, ob die Progressiven falsch liegen oder die Traditionalisten richtig. Beide dürfen voneinander lernen. Manchmal ist es gut und wichtig an Traditionen festzuhalten. Und manchmal wird es nötig, Traditionsballast aus dem Boot zu werfen. Es gehört zu den Herausforderungen der Orthodoxie immer wieder zu prüfen, was an sich biblisch ist und was sich mehr traditionell dazugesellt hat. Ebenso dürfen wir angstfrei bejahen, dass jede Form des christlichen Glaubens und sogar jede formulierte Lehre nicht in einem (kulturellen) Vakuum existieren, sondern stets in einem spezifischen Setting ihre Gestalt annahmen. Jede Generation steht also vor der schwierigen Aufgabe zu prüfen, ob und wie die traditionellen Glaubenssätze mit der Bibel in Übereinstimmung gebracht werden können und wann es an der Zeit ist, die alten Wahrheiten wieder mal neu (aber nicht substantiell anders) zu formulieren.



Der progressive Weg führt uns nur vermeintlich aus der Sackgasse

Die Progressiven unter uns sehen Glauben (und christliche Lehre) als etwas Wandelbares und Fluides, das sich bewegen muss, um gesund zu bleiben. Sie glauben dabei, dass wir alle auf einer Reise sind und keiner von uns die Wahrheit fix in der Tasche hat. Wir sollten besser von Wahrscheinlichkeiten reden, von deiner und meiner Wahrheit, von Auslegung, oder von Prägung.


Warum tönt die progressive Argumentation vordergründig so einleuchtend? Vielleicht weil sie so bescheiden wirkt: 'Wir sind die Freidenker, die sich von einem zu engen und 'von oben herab' vorherbestimmten Glauben losstrampeln, der sowieso für heute nicht mehr relevant ist. Wir sind die Befreier, die sich um die 'Unterdrückten' kümmern, indem wir ihnen eine neue Perspektive und neue Entfaltungsmöglichkeiten für ihren Glauben geben. Für einen Glauben, der nicht vorgekaut ist und aufoktruiert wir, sondern zum selber denken anregt. Wir sind die Authentischen, die es endlich zulassen, dass man die wirklich tiefen Fragen stellen kann und diese nicht verdrängen muss. Wieder bei Benz lesen wir:

Mehr und mehr Christen aus allen Generationen fangen an tiefe Fragen zu stellen [als ob man bis dahin keine tiefen Fragen gestellt hätte], über ihren Zweifel zu sprechen, ihrem Unwohlsein bei manchen Überzeugungen Luft zu machen und die fehlende Relevanz ihres Glaubens zu beklagen.

Sicher besticht das progressive Argument auch durch seine stark markierte Offenheit für Veränderung. Veränderung tönt grundsätzlich mal gut und positiv. Wer will schon immer am gleichen Ort stehen bleiben? Dabei zerren Progressive von der fundamentalistischen Sorte des Evangelikalismus, der oft aus einem Verteidigungsreflex die unwichtigen Dinge von gestern und vorgestern kämpferisch zu verteidigen versucht, dabei keinen Spalt weit offen für Kritik ist und die Progressiven sowieso als die grossen Häretiker auf dem Platz brandmarkt. Dagegen wirken Progressive wie Balsam. Sie sind offen, demütig, suchend, zweifelnd und ach so undogmatisch.


Doch das fast wirksamste Element der progressiven Argumentation ist eben dieses: 'Ihr Traditionellen seid fest überzeugt, dass ihr die Wahrheit unverfälscht in der Tasche habt. Dabei ist eure Wahrheit doch vor allem eure Auslegung und eure Biografie. Keiner hat die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Doch wir Progressiven sind da viel authentischer und reflektierter. Wir wissen, dass man Wahrheit nicht in Stein meisseln und nicht in Gefässe giessen kann. Wir reden lieber von Wahrscheinlichkeiten als von Wahrheit, von einem zu beschreitenden Weg anstatt vom schon-angekommen-Sein am Ziel, vom Mysterium anstelle von Dogma.' Das tönt doch alles sehr nach epistemologischer Demut. Wogegen die Traditionellen sich zu sicher waren, dass sie Gott hundertprozentig richtig verstanden haben, schwenkt man nun auf die Seite eines 'so genau können wir das ja nicht wissen'.


Warum stört mich dieses Argument? Warum wirkt es auf mich so wie shabby-shic, nur oberflächlich authentisch, aber darunter liegend unecht? Schauen wir uns das Argument noch einmal genauer an.


Zur Anatomie des progressiven Arguments:

Schritt 1: Wir bringen zum Ausdruck, dass es keine absolute Wahrheit gibt, sondern dass alle ihren Glauben auf ihre Zeit und Situation zuschneidern, wie's halt grad passt. Was dabei immer gut wirkt, sind Sätze wie dieser:

Wenn evangelikaler Glaube so ursprünglich, so roh, so unbearbeitet, so zutiefst biblisch wäre, warum gibt es dann so viele Glaubensunterschiede zwischen den evangelikalen Denominationen? (Martin Benz) [2]

Zu sagen, dass jeder Glaube letztlich massgeschneidert ist, legitimiert das eigene Projekt der De- und Rekonstruktion. Denn wenn es keinen allgemeinen wahren Glauben gibt, bin ich frei, meinem eigenen Glaubensprojekt nachzugehen.


Schritt 2: Wir werfen den anderen vor, dass sie genau hier den grössten Fehler begehen, weil sie die Wahrheit für alle verbindlich bestimmen. Wir unterstellen Dogmatismus und Engstirnigkeit. Anschauungsbeispiele helfen weiter: Die toxische Kirche, die 'Wahrheit' missbraucht. Oder nur schon Momentaufnahmen von (fundamentalistisch-konservativen) Grabenkämpfen auf unbedeutenden Nebenschauplätzen helfen zu zeigen, dass selbst die Bibeltreuen am Ende des Tages nicht auf eine fixe und definitive Auslegung, sondern auf tausendundeine Interpretation kommen. Und damit ist der Boden für Schritt drei gut vorbereitet.


Schritt 3: Wir präsentieren die eigene, progressive Form des Glaubens als 'bescheidener' und gegenüber den alten Glaubenstraditionen als 'befreiend'. Wir betonen, dass wir 'auf der Suche sind'. Auf dem Hintergrund von Schritt eins und zwei des Arguments wirkt die eigene Präsentation des 'authentischen', neu gefundenen Glaubens dann nicht mehr so dogmatisch. Dann kann man sogar mal mit deskriptiveren Sätzen, wie christlicher Glaube heute aussehen solle aufwarten, ohne gerade unter den Verdacht zu geraten, wieder (eine neue) Wahrheit festlegen zu wollen.


Doch letztlich - und jetzt kommen wir zum unechten Moment des shabby-shic - passiert genau dies: Progressive sagen uns jetzt, wie Glaube heute sein soll und vor allem wie er nicht mehr sein darf! Progressive bestimmen also eine neue Orthodoxie, die gar nicht so orthodox wirkt, weil sie als authentische Befreiung von einem veralteten, einengenden Glauben gesehen wird. Gut, man könnte sagen, dass die Progressiven nur eine andere Form des Glaubens für sich entwickeln und dabei die anderen Formen gar nicht in Frage stellen wollen. Der progressive Glaube wäre dann einfach eine valide Möglichkeit unter vielen anderen Möglichkeiten, die man wählen oder nicht wählen kann. Aber genau an diesem Punkt fällt das Kartenhaus dann meistens zusammen:

  • Das, was die Progressiven für sich als wahr entdecken, steht häufig (aber nicht immer) kontrastierend zu dem, was sie früher glaubten, so dass es nicht länger möglich ist, beides - das Alte und das Neue - zu glauben. Anders gesagt, nur mit einer utopisch relativistischen Weltanschauung könnte man noch vernünftig sagen, dass beide Aspekte ihre Berechtigung behalten. Bei den Progressiven tönt es aber viel mehr so, dass sie ihre Lösung als besser, ja richtiger und näher bei der Wahrheit sehen als die 'alte Variante', die sie überschreiben wollen. Sie werben für ihr neues Verständnis. Sie kritisieren ihren früheren Glauben, zum Teil vehement.

  • In einigen Punkten der christlichen Lehre und Ethik ist es schlichtweg unmöglich, zwei sich kontrastierende Ansprüche nebeneinander stehen zu lassen. Entweder 'praktizierte Homosexualität' ist von Gott gewollt oder sie wird als Sünde verurteilt. Beides gleichzeitig kann nicht wahr sein! Entweder die Bibel ist irrtumslos oder sie enthält Fehler. Beides gleichzeitig kann nicht wahr sein! Auch wenn das jetzt platt tönen mag und man differenzieren muss (was heisst 'irrtumslos' usw.), wir sollten uns nicht vormachen, dass im Christentum einfach alles nebeneinander geht.

  • Auch wenn wir die 'Wahrheitsanteile' des progressiven (postmodernen) Arguments dankbar anerkennen dürfen - nämlich, dass jede Form und jede Formulierung des Glaubens kulturell gefärbt oder 'geschneidert' ist und wir unsere Traditionen zu prüfen haben - hilft es nicht weiter, jetzt einfach auf der anderen Seite des Pferdes herunterzufallen indem wir in die Parole 'alles ist relativ und subjektiv' einstimmen. Einerseits ist diese Parole ein absolutes, universelles Statement und widerlegt sich damit selbst. [3] Und zudem gibt es jenseits dieses relativistischen Weges, der nur ins Beliebige führen kann, den besseren (christlicheren) Weg der stückwerkartigen Erkenntnis: 'Ja, unsere Erkenntnis bleibt immer begrenzt. Und trotzdem können wir etwas Wahres erkennen, wenn auch nie erschöpfend.' (Mehr dazu gerade nachher)

  • Zuletzt stelle ich mir diese ehrliche Frage: Kann ein Mensch ohne Wahrheit und nur mit Wahrscheinlichkeit leben? Wieso lesen wir in der Bibel nie darüber, dass Gottes Geist uns in 'mögliche Wahrscheinlichkeiten' für unseren Glauben führt, die vielleicht heute gelten aber morgen wieder revidiert werden müssen, weil sie nicht mehr passen, sondern dass er uns in die Wahrheit führt? Wir sehnen uns scheinbar nach mehr als nach fluiden Wahrscheinlichkeiten, einem stabileren Glauben, der sich nicht ständig neuerfindet und nach einer Gewissheit, dass wir am Ende nicht daneben liegen.


Christlicher Glaube kann kein 'für die Zeit' massgeschneidertes Glaubensprodukt sein

Wie sollen wir uns auf dem relativistischen Terrain von heute aufstellen? Martin Luther konnte einst auf dem Reichstag in Worms zuversichtlich 'behaupten':

Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort.

Luther stellte sich auf die Heilige Schrift, gegen die Position der katholischen Kirche. [4] War Luther einfach naiv und arrogant, weil er sich so sicher war, dass er richtig lag und die anderen falsch? Würde er heute nicht vielmehr eingestehen, dass das eine halt seine Auslegung ist, währen die andere Seite zu anderen validen 'Lösungen' kommen mag? Was würde Luther auf dieses Statement erwidern, das ich einem Facebook-Kommentar entnahm?

Wie könnt ihr (Konservativen) euch anmassen zu sagen, dass ihr (allein?) die Bibel richtig versteht und dann auf dieser Grundlage andere kritisieren, dass sie daneben liegen? Die Entwicklungen in der evangelikalen Szene sollten uns doch gerade zeigen, dass es eben auch noch andere Auslegungen gibt, die genauso wenig richtig oder falsch sind, wie eure Interpretationen der Bibel. Hört also auf, andere zu kritisieren und ihre Bücher zu zerreissen.

Zwei unterschiedliche Universen, die sich hier präsentieren. Ich plädiere fest überzeugt dafür, dass wir uns tendenziell auf die Seite Martin Luthers stellen sollten. Wenn wir nicht mehr äussern und meinetwegen manchmal darüber streiten können, was wahr ist und was falsch, was biblisch ist und was ausserhalb liegt, dann verlieren wir uns im Nirvana des Beliebigen. Ist am Ende wirklich alles nur Auslegung? [5] Kommt es wirklich nicht darauf an, was wir (inhaltlich) glauben, so lange der Glaube uns und vielleicht ein paar anderen persönlich im Leben weiterhilft? Oder sehen wir es mehr wie Paulus, der eine konkrete, inhaltsschwere Botschaft verkündete, die ganz klare Konturen aufwies und die unter keinen Umständen verändert und verfälscht werden durfte?

Aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, denn das wir euch geprediget haben, der sei verflucht! (Galater 1,8)

Wenn alles wirklich nur relativ wäre, dann müsste sich die progressive Bewegung ja auch nicht so apologetisch betätigen, wie sie es tut. Dann wäre alles Privatsache und nicht Gegenstand von öffentlichen Debatten.


Es stimmt, wir sind alle auf dem Weg, unsere Erkenntnis bleibt stückwerkartig. Manchmal meinen wir, etwas ganz sicher zu wissen nur um später zu merken, dass wir falsch lagen. Der rigide Weg des 'Fundamentalismus', der meint alles bis ins kleinste Detail und für alle Zeiten und Menschen bestimmen zu wollen, kann uns hier nicht weiterhelfen. Wir alle dürfen wachsen, auch wachsen in unserer Erkenntnis. Und das beutetet manchmal, dass wir zugeben daneben gelegen zu haben. Für die Fundamentalisten sind folgende Punkte wichtig zu bedenken:

  • Nicht alles in der Bibel ist gleichermaßen klar und eindeutig. Es gibt schwierige Stellen (und darum auch unterschiedliche Interpretationen).

  • Die Bibel ist komplex. Verstehen erfordert Unterscheidung und Weisheit, Reife und Zeit. Wir sind aufgefordert, die Schriften 'unverfälscht' (richtig!) weiterzugeben (2. Tim 2,15) und das verlangt einiges von uns ab.

  • Die Bibel ist nicht monoton. Sie enthält ganz verschiedene Perspektiven, die sich ergänzen dürfen. Darum: vielleicht gibt es mehr als eine fixe Perspektive auf ein bestimmtes Thema. Vielleicht gibt es sich ergänzende Ansichten. Es lohnt es sich, auf andere zu hören und von ihnen zu lernen. (Und doch: Perspektivität heißt nicht Beliebigkeit. Nicht alle Perspektiven lassen sich vereinen).

Auf der anderen Seite sollten wir mit Martin Luther bedenken, dass ...

  • ... gewisse Dinge in der Bibel klar sind und dass die Bibel nicht ein kryptisches Buch von Hieroglyphen ist, das kein Mensch je verstehen kann. Die Bibel hat eine Botschaft, die uns normale Menschen - ob studiert oder Analphabeten - erreichen kann.

  • ... sich alle unsere Auslegungen an der Bibel messen müssen und wir mit ihr eine stabile Grundlage haben um sagen zu können, welche Auslegung der Bibel am Nächsten kommt.

  • ... wir sterblichen Menschen von Gott dazu geschaffen sind, Wahrheit zu erkennen, wenn auch nie erschöpfend (wir sind ja nicht allwissend so wie Gott), so doch echt und wahrhaftig.

Christlicher Glaube ist nicht massgeschneidert. Es gibt nicht einfach 'deinen' und 'meinen' Glauben in einem weiten Meer der beliebigen Möglichkeiten. Der christliche Glaube wird bezeugt und bekennt. [6] Die erste Kirche war sich klar darüber, was christlich-orthodoxer Glaube ist und sie hat das in ihren Bekenntnissen formuliert. Und - gewisse Auslegungen wurden als mit der Bibel kongruent verstanden, andere wurden abgelehnt. Wieso sollte das heute anders sein?


Es geht am Ende doch nicht darum, wer das Monopol der rechten Bibelauslegung hat. Das Monopol hat die Bibel selbst. Unsere Glaubenssätze und 'Dogmen' müssen sich auf eine nachvollziehbare Art und Weise an ihr messen. Die 'Monopol-Polemik' - der Vorwurf, es ginge bei all den theologischen Diskussionen nur um Fragen des Rechthabens - verhindert letztlich eine gesunde Diskussion auf der Grundlage der Bibel. Wenn am Ende des Tages alles nur auf der Ebene von individuellen Meinungen angesiedelt wäre, würde sich das Ringen um die Wahrheit nicht mehr lohnen. Dann würden auch keine Blogs oder Bücher mehr geschrieben und Plattformen wie Facebook würden nicht mehr von denen bemüht werden, die wüssten, wie es Richtiger wäre. Dann würden auch unsere Prediger am Sonntag nicht mehr auf die Kanzel gehen um den Ratschluss Gottes verkündigen. Sie würden einfach von ihren Erfahrungen berichten. Und die Bibel wäre dann vor allem ein Buch, das wir (vielleicht) ab und zu mal aufschlagen, wenn wir inspiriert werden wollen.



[1] Um klar zu sein, Häresie (also Irrlehre) ist nicht auf derselben Ebene wie eine Lehre, die bestimmte Aspekte der biblischen Botschaft falsch darstellt. Häresie betrifft den Kern des christlichen Glaubens. Häresie ist eine Verfälschung des Glaubens, so dass dieser Glaube zu etwas substantiell Anderem wird.


[2] Hier muss man sehen, dass die verschiedenen Denominationen der evangelikalen Bewegung, so unterschiedlich sie in gewissen theologischen (Rand)punkten sein mögen, doch alle im Kern dasselbe glauben. Siehe dazu Jim Packer und Thomas Oden: One Faith.


[3] Thomas Nagel widerlegt den Relativismus auf einer philosophischen Ebene. Für eine kurze Zusammenfassung siehe hier.


[4] Hier könnte man ja argumentieren, dass Luthers Auslegung gegen die Auslegung der katholischen Kirche stand, also Auslegung gegen Auslegung - eine Patt-Situation und ein Votum für Diversität gegenüber Einheitlichkeit. Doch gilt es zu beachten, dass Luther sich bei den Themen dieses Disputs auf die Bibel allein stützte, wogegen sich die Kirche auch (und man könnte sogar argumentieren) vor allem auf ihre Tradition neben der Bibel stützte. Ein grosses Thema, dem ich hier leider nicht weiter nachgehen kann.


[5] Dem Argument, dass die (klare?) Botschaft Bibel ja zu tausendundeiner Auslegung geführt habe und darum alles andere als klar sein könne, müssen wir uns stellen. Ich werde dies an anderer Stelle tun. Für ein relativ aktuelles Buch, das dieses Argument vorbringt, siehe Christian Smith: The Bible made impossible. Für eine gute Replik warum Smith trotzdem daneben liegt siehe hier.


[6] Selbst der evangelikale Glaube ist nicht einfach ein beliebiger und letztlich relativer Auswuchs einer bestimmten Zeit (die jetzt halt heute vorbei ist, weshalb wir uns darüber hinaus emanzipieren sollten), sondern ein Glaube, der darauf beruht, dass er wahr ist, oder dass er biblisch ist. Siehe eben Jim Packer und Thomas Oden: One Faith oder John Stott: Evangelikal Truth.



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