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  • matt studer

Mythos evangelikale Einheit (!) - Teil 2

Aktualisiert: 10. Okt. 2023


Man kann keine Einheit erzielen, wenn man sich gegenseitig auf die Füße tritt.

(François Mitterand)


Wo man nicht mehr an das Evangelium glaubt, gibt es auch keine Einheit mehr.

(Ian Murray, Evangelicalism Divided, S. 83)



Ich habe im letzten Artikel begonnen, das 'Problem' der Einheit unter uns Evangelikalen zu skizzieren. Dabei wurde deutlich, dass die evangelikale Bewegung heute ihr Zeltdach so weit aufgespannt hat, so dass es recht schwierig geworden ist, von einer kohärenten, einheitlichen Bewegung zu reden. Auf der anderen Seite hat die Bewegung eine Geschichte - und diese Geschichte zeigt, dass man sich einst in Einheit gemeinsam um das Evangelium versammelt hatte und dass damit bestimmte theologische Kernpunkte verbunden waren, die man zumindest skizzenhaft-bekenntnishaft festhielt.


Dabei könnte man sagen, dass es stets eine Stärke der Evangelikalen war, dass sie so viel Platz wie nur möglich liessen, damit sich Gleichgesinnte auf der rechten und linken Seite dazugesellen konnten, ohne dass sie in eine rigide 'theologische' Zwangsjacke gesteckt wurden. In anderen Worten, zur DNA der evangelikalen Bewegung gehört, dass sie zwar im Kern wirklich Gleichgesinntheit förderte, aber was alle glaubensmässigen Zweitfragen betrifft, unterschiedliche 'Lösungsansätze' zuliess. Eine Einheit in Kernfragen, eine Vielfalt in Randfragen, wie man oft sagt. Nur so konnte es letztlich gelingen, die verschiedensten Parachurch-Organisationen und Denominationen unter einem Dach zu vereinen.


Heute frage ich mich dies: Wie breit kann die evangelikale Bewegung sein, ohne ihr Profil ganz zu verlieren? Wie dehnbar ist ihr Kern?


Doch zunächst sollten wir das Konzept der Einheit noch genauer definieren.


Ein Versuch christliche (evangelikale) Einheit biblisch zu definieren

Als einer, der für sein Bekenntnis zum Herrn im Gefängnis ist, bitte ich euch nun: Denkt daran, dass Gott euch zum Glauben gerufen hat, und führt ein Leben, das dieser Berufung würdig ist! Keiner soll sich über den anderen erheben. Seid vielmehr allen gegenüber freundlich und geduldig und geht nachsichtig und liebevoll miteinander um. Setzt alles daran, die Einheit zu bewahren, die Gottes Geist euch geschenkt hat; sein Frieden ist das Band, das euch zusammenhält. Mit »Einheit« meine ich dies: ein Leib, ein Geist und genauso auch eine Hoffnung, die euch gegeben wurde, als Gottes Ruf an euch erging; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater von uns allen, der über alle regiert, durch alle wirkt und in allen lebt. (Epheser 4,1-4)

Nachdem Paulus drei Kapitel lang über das Evangelium, das Juden und Heiden auf so wunderbare Weise zusammenbringt, geschwärmt hat, folgt prompt die Ermahnung, sich nun auch dieser Realität entsprechend zu verhalten. Dabei gilt: Die Einheit der Juden- und Heidenchristen ist zuerst nicht etwas, das diese sich mühsam erarbeitet haben. Es ist ein Geschenk der Gnade Gottes. Eine geistliche Realität, gewirkt durch den Geist Gottes. Wie so häufig beginnt Paulus mit dem Indikativ - der Realität, wie Gott sie schafft - und schliesst danach mit dem Imperativ an - was die Gemeinde im Licht dieser Realität nun zu tun hat, wie sie jetzt leben soll. Kevin DeYoung formuliert es so:

Der Ruf zur Einheit ist die Aufforderung, in der Beziehungspraxis zu zeigen, was in der spirituellen Realität bereits Wirklichkeit ist.

Der Text im Epheserbrief (siehe auch Kapitel 4 und 5) zelebriert Vielfalt auf verschiedene Art und Weise: ethnische Vielfalt (Juden und Heiden), verschiedene sich ergänzende Gaben, verschiedene Ämter in der Kirche. Wir reden hier nicht von Monokultur. Paulus zeichnet auch kein Bild der christlichen Kirche, in der ein einziger begabter Leiter alles ausfüllen würde. Die Metapher des Leibes mit den verschiedenen Gliedern zeigt uns vielmehr, dass Vielfalt soweit geht, dass sie jedes einzelne Glied in seiner Andersartigkeit ins grosse Ganze einbindet. Aber wo bleibt dann die Einheit, woran macht sie sich fest? Gott schafft sie, Gott schenkt sie, Gott hält sie aufrecht. Und gleichwohl (oder gerade deshalb) ist sie nicht beliebig: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott, ein Vater. Um es plakativ zu machen: Christen und Muslime können keine geistliche Einheit geniessen, weil sie sich nicht auf den gleichen Gott berufen (oder weil sie nicht vom gleichen Gott berufen worden sind!). Der Epheserbrief hat eine sehr konkrete Note, eine klare Farbe, eine explizit christliche Ästhetik. DeYoung meint denn auch:

Ohne eine gemeinsame Treue zu unserem einen Herrn Jesus Christus und einem gemeinsamen Bekenntnis zu unserem einen Glauben kann die Einheit des Geistes nicht aufrechterhalten werden.

Darum hat christliche Einheit auch ein theologisches Fundament. Sie fragt: welcher Gott, welche Hoffnung, was für ein Glaube? Und die Antwort lautet: Der Gott, der sich uns in der Bibel offenbart. Die Hoffnung, die uns im Evangelium geschenkt ist. Der Glaube, der 'den Heiligen ein für alle Mal anvertraut worden ist' (Judas 1,3). So fasste es Martyn Lloyd-Jones einst in Worte (ich muss das fast auf Englisch lassen):

The unity that our Lord is concerned about is a unity which is spiritual. It consists of a unity of spirits, and it is a unity, therefore, which is based solidly upon the truth. It is based upon the whole doctrine – regeneration and the rebirth, the receiving of the Holy Spirit – and obviously the doctrine must be dependent ultimately upon the Person of our Lord and upon his work. It is a unity of people who have become spiritual and who have been born again: we are made one with one another, because we first of all are united to Christ and made one with him, and, through him, one with God. (Lloyd-Jones, ‘The Unity of the Spirit (John 17:20–23)’ in: The Assurance of Our Salvation, S. 523)

Der Neutestamentliche Glaube hat einen Maßstab: Jesus Christus (in seiner ganzen Fülle). Und wir sollen 'in unserer Kenntnis von Gottes Sohn zur vollen Einheit gelangen' (Epheser 4,13). Heisst, wir sind noch nicht am Ziel - und doch basiert unsere Einheit auf der Person und dem Werk Jesu Christi und auf nichts anderem. Wir reden hier von einem definierten Glauben, wohlgemerkt (nicht nur von einem mystischen Einssein mit dem Gottessohn), denn wir sollen reif und standhaft in der Lehre sein, uns 'nicht mehr durch jede beliebige Lehre vom Kurs abbringen lassen wie ein Schiff, das von Wind und Wellen hin und her geworfen wird' (Vers 14). Wir sollen 'in einem Geist an der Wahrheit festhalten' (Vers 15). Und Wahrheit ist für Jesus ja bekanntlich mehr als personell ('Ich bin die Wahrheit'). Es ist das Wort Gottes, das Wort über seinen Sohn, das wahr ist (Joh, 17,17). Es ist also nicht an sich abgedreht, wenn Leute wie ich (oder Kevin DeYoung) zu diesem Schluss kommen: [1]

Die Einheit der Kirche hängt von einer gemeinsamen Reihe lehrmässiger Überzeugungen [über Gott und seinen Sohn] ab.

Natürlich popt dann sofort die Frage auf 'welche Lehren denn? Und welche nicht?' Die Antwort auf diese Frage würde einen weiteren Artikel benötigen. Kurz gesagt stand die Kirche zu jeder Zeit vor der schwierigen Aufgabe, zwischen den essentiellen und nicht-essentiellen Lehren zu unterscheiden, zwischen 'guter Lehre' (1. Tim 4,6). und der Lehre, die von Dämonen eingegeben ist (1. Tim 4,1), sowie theologisch zweitrangigen Themen, die zwar nicht unwichtig sind, aber für eine christliche Einheit nicht unbedingt essentiell. Weiter müsste man zwischen einer 'Einheit unter Christen' und einer 'denominationellen Einheit' unterscheiden. Es versteht sich von selbst, dass eine bestimmte Konfession oder Denomination engere Grenzen zieht, als das 'generelle Christentum' (häufig gehören die 'zweitrangigen' Themen, wie Modus der Taufe, des Abendmahls usw. zu den wichtigen Markern einer Denomination). Da gäbe es mehr dazu zu sagen, aber wir müssen es mal so stehen lassen.


Schliessen wir diesen Abschnitt mit den (in meinen Augen) weisen Worten von Martyn Lloyd-Jones, der sich lange vor unserer Zeit mit dem 'Problem' der Einheit beschäftigen durfte:

There is only one faith (I do not mean here my faith in him, but the faith about him), the faith that the apostles preached. They preached that Jesus is the Lord, the Son of God, that he died for our sins and that he was made a substitute for us. That is their faith, the word that they preached, and it was as the result of hearing and believing this word that the people became members of the church, and one with others who were in the church before them. So you see that these things are vital; this is the unity that was to be found in the early church; it is the unity that is found at all times of true reformation and revival. (The Assurance of Our Salvation, 524-525).


Der 'eine christliche Glaube' und die evangelikale Bewegung

Diese Überlegungen waren zugegeben etwas universellerer Natur, als dass sie nur die evangelikale Bewegung betreffen würden (apropos Christen und Muslime). Jetzt könnte man argumentieren, dass diese Beschreibung generell stimmig ist. Dass das Christentum sich wesensmässig von anderen Religionen, Weltanschauungen oder Lebenskonzepten unterscheidet und man das tatsächlich an der konkreten Lehre über den christlichen Gott und seinem Sohn festmachen kann. Die meisten Leser würden diesem Statement wohl zustimmen. Dann wäre die Bewegung des Christentums immer noch genug breit, um so manche Strömung, Unterströmung und sogar gewisse Gegenströmungen (?) einzumitten und auszuhalten. Die evangelikale Strömung wäre dann nur eine unter vielen möglichen Varianten des Christentums.


Ich möchte noch eine andere Diagnose wagen. Es ist natürlich so, dass das 'Christentum' oder die christliche Bewegung der letzten zweitausend Jahre ein unglaublich komplexes Phänomen ist. In dieser Geschichte der Jesusbewegung machen wir Evangelikale von heute doch einfach nur ein Stück des ganzen Kuchens aus. Und dabei könnten wir's ja belassen. Aber deuten nicht all die aktuellen Diskussionen in der evangelikalen Blase in eine ganz andere Richtung? Dass wir doch letztlich darum ringen, was christlicher Glaube heute in Kontinuität mit der Bibel und der Geschichte der christlichen Kirche heisst? Dass es zumindest in Aspekten der Diskussion um die Frage geht, ob wir überhaupt noch vom gleichen Kuchen reden? Und zeugt nicht die Heftigkeit der Diskussion davon, dass es nicht eigentlich die Farbe des Zuckerguss ist, die uns entzweit, sondern die Frage um das Originalrezept? Ich meine, dass es heute manchmal wirklich um die Grundzutaten geht, um das Essentielle des Kuchens (nicht immer, aber immer öfter). Meine Diagnose ist also, dass die Diskussion nicht nur gegen aussen (Christen sind keine Muslime), sondern auch innerhalb (diese Lehre oder dieses Verhalten ist nicht mehr christlich) geführt wird und geführt werden muss. Nicht, dass wir einander damit direkt den Glauben absprächen. Aber doch dass wir fragen, ob eine bestimmte Haltung oder Position noch innerhalb des 'grünen' Bereichs des Christentums liegt. Wenn sie ausserhalb läge, würde dies unsere Einheit erschweren bis verunmöglichen. Mit anderen Worten, es geht hier um den 'einen, echten und wahren christlichen Glauben'. Und an der Stelle dürfen wir noch einmal John Stott zitieren, der eine evangelikale Kontinuität mit dem 'biblischen-christlichen Glauben' betonte:

Wenn evangelikale Theologie biblische Theologie ist, folgt daraus, dass sie kein neu-modischer „Ismus“, keine moderne Form des Christentums ist, sondern ... tatsächlich die ursprüngliche Form. Es ist das Neutestamentliche Christentum. (zitiert in Kenneth Stewart, Search for Ancient Roots, S. 16)

Die evangelikale Bewegung lebte immer wieder vom Grundimpuls, diese 'Essentials' des christlichen Glaubens zu feiern, zu bewahren und zu verteidigen (ich wehre mich gegen die heute häufig vertretene These, dass wir primär aus einem Verteidigungsreflex heraus agieren). Wenn es einen Weg der evangelikalen Bewegung vorwärts gibt, dann muss er mit diesen 'Essentials', diesen Grundlagen des 'ein für allemal überlieferten christlichen Glaubens' zusammenhängen. Wie bereits gesagt, kann Einheit nur dann funktionieren, wenn wir uns gemeinsam auf diese Grundlagen berufen und gemeinsam darauf bauen können.



Von theologischen Minimalisten und Maximalisten und einem besseren Weg vorwärts

Im ersten Artikel über evangelikale Einheit kam ich zum Schluss, dass die evangelikale Bewegung von heute zu wenig Profil hat, als dass man wirklich von einer Einheit reden könnte. Nicht einmal was die allerwichtigsten Glaubensgrundlagen betrifft, scheint Einigkeit zu herrschen. Was Murray einst über Evangelikale in der Anglikanischen Kirche sagte, könnte genau so gut für uns heute gelten:

Die Befürwortung der doktrinären „Vielfalt“ ist zu einem Markenzeichen ... geworden. (aus Evangelicalism Divided, S. 142)

Die heutige evangelikale Bewegung ist theologisch minimalistisch geprägt: egal wenn wir uns nicht auf ein 'allgemein gültiges' Verständnis der 'Essentials' berufen können, die Hauptsache ist, dass wir durch unsere gemeinsame Mission miteinander verbunden sind und uns irgendwie auf Jesus Christus berufen. Die theologischen Minimalisten reagieren dabei vielleicht sogar berechtigterweise gegen eine evangelikale (fundamentalistische) Subkultur, die sich so penibel durch Abgrenzungen aller Art beschäftigt. Diese Subkultur kann durchaus die Tendenz haben, überall Zäune aufzurichten und jedes noch so winzig kleine (non-essentielle) theologische Thema zum Litmustest der Orthodoxie zu machen - ergo theologischer Maximalismus (wenn du in dieser Randfrage nicht so tickt's wie wir, bist du draussen!). Der Tenor geht daher heute eher in die Richtung, dass man lieber nicht über 'notwendige Zäune an der Grenze', sondern über ein gemeinsames Zentrum redet, auf das man sich dann relativ unpolemisch fokussieren kann. Theologische Vielfalt, mit einem rudimentär gemeinsamen Blick aufs Zentrum, auf Jesus Christus. Als ob das nicht genug wäre (?).


Auf dem Papier tönt dieses Vorgehen gut. Ich nenne zwei Gründe warum es heute in der Praxis nicht wirklich funktioniert. Erstens (und ich bin mir wohl bewusst, dass ich mich wiederhole), ist unser 'Zentrum' im Moment zu schwammig, zu offen formuliert. Gerade hier müssten wir viel mehr Klarheit schaffen. Das Problem zeigt sich, wenn für manche innerhalb der evangelikalen Bewegung gerade die einstigen theologischen Grundsätze hinterfragt und revidiert werden müssen. Die Frage bleibt also: von welchem Zentrum reden wir? Zweitens, geht es meiner Meinung nach doch nicht ganz ohne Grenzen, weil das Zentrum, wenn es denn inhaltlich gefüllt wird, auch die Grenze mitdefiniert. Trevin Wax meint: 'Affirmations and anathemas go together.' (aus The Thrill of Orthodoxy, S. 129)

Wenn die evangelikale Bewegung sich immer um das Evangelium zentriert hat, bezeugt sie, wofür sie einsteht, was sie glaubt und was sie feiert - und (implizit) eben auch was davon ausgeschlossen ist. Um es plakativ zu formulieren, wenn ich bezeuge, dass uns im Evangelium die Gnade Gottes 'geschenkt wird', sind alle religiösen Versuche der Selbst-Erlösung Anathema. Es lässt sich nicht beides auf die Waagschale legen. Wenn wir uns innerhalb der evangelikalen Bewegung im Moment mit einer progressiv-revisionistischen Strömungen konfrontiert sehen, müssen wir uns die Frage stellen, wo solche 'Revisionen' das originale Evangelium tatsächlich soweit revidieren, dass es nicht mehr evangelikal ist. [2] Die Frage ist: Welche Grenzen braucht es, damit das Zentrum das Zentrum bleibt? Albert Mohler bringt es auf den Punkt:

Das Zentrum definiert ... die Grenze. Die Grenze existiert nicht um ihrer selbst willen, sondern als notwendiges Korrelat zur Mitte. Jede Bewegung ist doch für das bekannt, was sie nicht ist, auch wenn ihre zentralen Leidenschaften definieren, was sie ist. (aus Four Views on the Spectrum of Evangelicalism, S. 95)


Und jetzt? Wie breit, wie schmal, wie weit, wie eng, wie hoch, wie tief?

Ist es tatsächlich unmöglich, den zeitgenössischen Evangelikalismus theologisch zu definieren? Handelt es sich lediglich um eine soziologische Kategorie, die lose durch eine Vielzahl von Institutionen und Organisationen zusammengehalten ist? In diesem Fall wächst die evangelikale Theologie nicht auf einem historischen Boden, sondern sie speist sich aus dem, was auch immer derzeit an evangelikalen Seminaren gelehrt, in evangelikalen Zeitschriften redaktionell aufbereitet und von evangelikalen Verlagen gerade veröffentlicht wird. (Trueman, The Real Scandal of the Evangelical Mind, S. 29)

Evangelikale Einheit ist in erster Linie eine 'theologische Aufgabe', bevor sie zu einer 'strukturellen Herausforderung' wird. Es geht nicht zuerst um Sympathie, ein möglichst grosses Beziehungsnetzwerk, gemeinsame Hobbys, nicht einmal nur um eine geteilte Gotteserfahrung (dieser oder jene Worshipevent und diese oder jene Konferenz!). Einheit unter Evangelikalen kann nur dort stattfinden, wo man den christlichen Glauben teilt, wo man auf das gleiche Fundament aufbaut, das Fundament, das von den Aposteln und Propheten gelegt wurde und dessen Eckstein Jesus Christus ist (Eph. 2,20). Wir müssen uns heute fragen: Wollen wir vor allem Dialog und viel Weite, so dass wir einander den Glauben glauben (selbst wenn der Glaube des anderen nicht mehr nachvollziehbar ist)? Oder suchen wir wieder verstärkt nach der Mitte, dem Zentrum unseres Glaubens, auf die Gefahr hin, dass wir dann auch wieder die Grenzen ziehen müssen, die eben nicht nur ein- sondern auch ausschliessen werden? [3]


Evangelikale Einheit baut auf dem biblischen Fundament des christlichen Glaubens auf. Sie sagt: 'Wir bekennen dies und das, weil es biblisch ist.' Wenn das plump tönt, dann nur weil wir es vor lauter Vielfalt verlernt haben, zumindest bei zentralen Glaubenssätzen zu einem klaren 'so ist es!' zu kommen. Bekenntnisse helfen dabei. In erster Linie können wir uns auf die bereits bestehenden Bekenntnisse der evangelischen Allianz berufen, die als Minimal-Glaubensbekenntnisse herhalten können. Darüber hinaus glaube ich, dass es weitere (alte und vielleicht sogar neue?) Bekenntnisse braucht, die das Feld etwas breiter als nur minimal abstecken. [4] Dabei muss ein besserer Weg gefunden werden, auf dem sich Klarheit und Einheit in Kernfragen, die das Evangelium betreffen, und Vielfalt in allen Randthemen in einer guten Balance begegnen können.


Das Hauptproblem dabei ist (wenn man denn zu einem ähnlichen Schluss kommen will), dass die evangelikale Bewegung diese Aufgabe so eigentlich gar nicht lösen kann. Und damit kommen wir zur strukturellen Herausforderung. Wir Evangelikalen haben weder einen Papst, noch eine strukturelle Konstitution, die es uns ermöglichen würde, dieses Problem 'konstitutionell' anzugehen. Wir sind eine Bewegung, und Bewegungen haben nun mal keine klaren Grenzen. Diese Ausgangslage hat immer Vor- und Nachteile (und glaubt mir, ich würde nie für einen evangelikalen Papst plädieren). Die Nachteile in der momentanen Situation, in der starke revisionistische Kräfte am Wirken sind - (zum Guten wie zum Schlechten würde ich meinen) - ist, dass die evangelikale Bewegung hier bei uns (wie auch in Amerika) in der Gefahr steht, sich noch stärker zu fragmentieren, so dass man noch weniger von Einheit sprechen kann. Hinzu kommt der Challenge von aussen, indem evangelikale Christen mehr und mehr den Druck eines säkularen Umfelds zu spüren bekommen - natürlich vor allem dann, wenn sie an traditionellen, moralischen Werten festhalten wollen. Gerade in diesen Themenbereichen (Sexualethik und Co.) wird es in absehbarer Zeit keine Einheit unter denen geben, die das Label 'evangelikal' für sich beanspruchen. Wie sollen wir denn angesichts dieser Tatsache leben? Mit dieser Frage beziehe ich mich auf das Miteinander auf einer strukturellen Ebene, das Miteinander von Gemeindeverbänden oder nur schon den verschiedenen Lokalgemeinden unter sich. [5]


Ich trage meine rosarote Brille schon länger nicht mehr. Das heisst, ich mache mir keine Illusionen, dass sich der Prozess der Fragmentierung unter Evangelikalen noch stoppen liesse. Verbände, Gemeinden und Werke dürfen den harten Prozess der theologischen Prüfung der Dinge, die da anstehen, nicht auf die lange Bank schieben. Es ist an der Zeit, sich zu positionieren - andernfalls wird man positioniert. Das braucht eine ganz gehörige Portion Weisheit und Mut. Wo verzichten wir auf den Dialog und zeigen Profil? Wo geben wir grosszügig Raum für verschiedene Meinungen? Wo sind wir demütig aber klar zu sagen, dass wir uns auf die biblische Wahrheit verpflichten und daher nicht bereit sind, davon abzurücken? Wo lassen wir verschiedene Anfahrtswege offen? Vermutlich wird die Entwicklung der nächsten Jahre klarer zeigen, wer wo landen wird. Anzeichen dafür sind schon vorhanden. Das viel gepriesene Konzept der Ambiguitätstoleranz, wenn es um die Positionierung im Bereich der christlichen Sexualethik geht, ist einem polarisierenderen 'Stellungskampf' gewichen, bei dem ein wahrnehmbar härterer Wind bläst. Nur noch ein paar Zurückgebliebene können noch sagen 'lassen wir die Sache offen'; so genau wissen wir ja nicht, was richtig und was falsch ist'. Ähnliches kann ich mir bei der Entwicklung der post-evangelikal-progressiven Strömung vorstellen, die momentan das 'Evangelikale' noch braucht, um sich daran abzuarbeiten. Die Zeit wird zeigen, ob diese Bewegung am Ende mehr post oder doch immer noch evangelikal sein wird. Ja, am Ende wird offenbar, wer auf welches Fundament gebaut hat und ob das zutrifft, was Trueman voraussieht:

Es ist wahrscheinlich, dass die kommenden kulturellen Stürme am besten von evangelikalen Organisationen und Institutionen mit präziser definierten Lehraussagen überstanden werden, insbesondere solchen Aussagen, die den historischen Glaubensbekenntnissen und Bekenntnissen nahe stehen. (The Real Scandal, S. 38)

Einheit ist kein leichtes Gut. Die sowieso schon lose evangelikale Bewegung zeigt erste (oder schon fortgeschrittene?) Anzeichen von Brüchigkeit. Es ist vielleicht ganz gesund und gut, wenn Gestein wegbricht? Der Titel meiner Artikel hiess 'Mythos evangelikale Einheit'. Ja, ich glaube wir sind zu euphemistisch unterwegs, wenn wir meinten, wir könnten die frappanten Unterschiede, wie 'wir' die zentralen Grundsätze des christlichen Glaubens definieren, so einfach herunterspielen. Das mag für eine Weile gut aussehen, aber unsere Einheit wäre nur oberflächlich, die Brüche liegen darunter und würden sich früher oder später bemerkbar machen. Ich bleibe dabei. Wenn wir gemeinsam in Einheit vorwärts gehen wollen, so kann dies nur gehen, indem wir uns auf die Grundlagen des evangelikalen, ja des christlichen Glaubens berufen.


[1] Lloyd-Jones verneint, dass es nicht darauf ankomme was man (inhaltlich) bekennt, wenn man sich denn als Christen bezeichnen will:

There are many people in this world who call themselves Christians, yet who, alas, regard the Lord Jesus Christ as nothing but a man. Well, all I can say to that is that I have no fellowship with such people. I have no unity with them for they take from the very foundation and basis of my faith, and my whole position and standing. What do these people believe about the work of the Lord Jesus Christ? What is their view of his death? Is it just a tragedy; is it just the death of a passive resistor; is it the death of someone who was not understood by his contemporaries? Is it a murderous death or is it a substitutionary death? Is it the Son of God dying because that is the only way whereby my sins may be forgiven, and therefore the essential preliminary to my becoming a child of God, and a partaker of the divine nature? If it is essential, and the other man says it is not, how can it be possible for there to be unity between us? And the same is true with all these other cardinal doctrines of the Christian faith. Now there is no unity unless we stand on this – one Lord, one faith, one baptism. There is only one Lord Jesus Christ, and I must be clear about his Person and about his work.(S. 523-524)

[2] Mohler sieht die revisionistische Bewegung bereits als Pendant zum Liberalismus und also ausserhalb des Evangelikalen: 'It is by now apparent that the reformist evangelicals are not actually calling for a reformation of evangelicalism as a movement of conscious continuity with the classical Christian tradition. At least some of them are calling for the abandonment of the very theological foundations on which the evangelical tradition was built.' (S. 88)


[3] Ian Murray, der die Entwicklung der Evangelikalen innerhalb der anglikanischen Kirche untersucht, stellt fest, dass die Suche nach dem evangelikalen Kern, dem Evangelium, erschwert wurde, weil man die 'ekklesiale Einheit', das Dazugehören zur anglikanischen Kirche vor den theologischen Fragen rund um das Evangelium priorisierte. Murray meint:

Evangelicals could never gain approval and influence in these denominations if they remained apart. But to be welcomed to discussions by fellow denominationalists they would need to act as though they did not believe the very thing they were rightly accused of believing, namely, that there is no real unity without biblical and evangelical belief. (S. 97)

[4] Eine neue Initiative, die diesem Auftrag nachkommt, ist die Erklärung 'Gemeinsam für das Evangelium' (https://dasevangelium.net). Ein guter Text, der sich dem Bekenntnis-Charakter der christlichen Kirche widmet ist The Creedal Imperative von Carl Trueman.


[5] Auch wenn ich nicht glaube, dass die sexualethischen Themen direkt zum Kern des Evangeliums gehören, meine ich doch, dass sie mindestens (im grösseren Netz aller Zusammenhänge) implizit mitschwingen und daher zu 'Trennungsgründen' führen werden und schon führen. All die Fragen rund um die Sexualität und die Identität des Menschen sind keine Randthemen. Die gegenwärtige Diskussion macht das deutlich. Für mehr Gedanken dazu siehe hier.

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