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  • matt studer

Mythos evangelikale Einheit (?) - Teil 1

Aktualisiert: 10. Okt. 2023


Es gibt einfach kein reines, platonisches Ideal des Evangelikalismus, keine gemeinsame Identität, an der alle Evangelikalismen teilhaben.

(Carl Trueman, The Real Scandal of the Evangelical Mind, S. 37)



Ist Einheit unter Evangelikalen noch möglich? Mit dieser vielleicht etwas provokativen Frage starte ich in diesen Artikel. Das Thema Einheit wird viel diskutiert im Moment. Für die einen ist Einheit das Gebot der Stunde: Schluss mit den Grabenkämpfen und dem müssigen Herumreiten auf Unterschieden. Was wir brauchen ist ein Re-Fokus auf unsere gemeinsame Mission. Oder vielleicht etwas abgeschwächter: Trotz all der polarisierenden Fragen sollten wir doch den freundschaftlichen Dialog suchen und voneinander lernen (siehe aktuell die beiden Dietz-Schäl-Artikel im Magazin Aufatmen). Auf der anderen Seite zeigt uns das digitale Wortgefecht im Anschluss an ein Video des Künstlers Rezo, das 'fundamentalistisch-homophobe Evangelikale' aufs Korn nimmt, dass es mit dem Dialog vielleicht doch etwas happert (ich beziehe mich nicht primär auf die Darstellung von Rezo und den Leuten, die er Snippet-mässig einblendet - zum Teil wirklich sehr kurios - sondern auf die stattfindende Diskussion unter Christen auf den sozialen Plattformen, die sich auf Rezo's Video beziehen). Beispiele wie dieses scheinen zu zeigen, dass zumindest in Fragen wie diesen keine Einheit (mehr) gefunden werden kann. Entweder bezeichnet man (ausgelebte) Homosexualität als Sünde, oder man wird als homophob abgetan, wobei die Sünde darin besteht, dass man die Meinung vertritt, praktizierte Homosexualität sei Sünde. Die goldene Mitte bleibt illusorisches Wunschdenken.


Ich habe nicht alle passenden Antworten auf alle Fragen (mit Sicherheit werden die einen mir zustimmen und andere dagegen argumentieren - vielleicht ein weiteres Zeichen für das 'Problem der Einheit'?). Vielmehr möchte ich ein paar aus meiner Sicht essentielle Fragen in die Runde werfen. Ich meine, dass wir uns diesen Fragen stellen sollten, um in der Diskussion voranzukommen. Dann habe ich schon einen, wenn auch noch etwas unausgegorenen Lösungsvorschlag, den ich gerne unterbreiten werde, im Wissen, dass andere als ich die Entscheidungen treffen dürfen/müssen und dass wir die Entwicklung nicht vorwegnehmen können. Dieser Vorschlag für einen Weg vorwärts erscheint dann in einem Folgeartikel.



Wie kann Einheit funktionieren, wenn man nicht einmal weiss, wer man selbst ist? Das Problem der Definition von 'evangelikal'

Anders als beispielsweise bei der Identifizierung von Katholiken, Täufern, Methodisten, Presbyterianern und Episkopalisten, die man anhand ihrer Kirchenzugehörigkeit erkennen kann, ist die Bestimmung, wer Evangelikale sind, eine viel schwierigere und letztendlich subjektive Aufgabe. (Carl Trueman, The Real Scandal of the Evangelical Mind, S. 14)

Wie buchstabieren wir 'evangelikal'? Was macht die evangelikale Bewegung aus? Wenn wir eine Einheit sein wollen, dann geht dies nur auf Grund eines gemeinsamen Nenners. Ansonsten sind wir ein loser Haufen, der per Zufall zusammengefunden hat, weil wir gerade alle am selben Ort standen. Und hier erscheinen bereits die ersten Fragezeichen. Im Unterschied zu einem Katholizismus, der weltweit eine gewisse 'Einheitlichkeit' besitzt (eine festgesetzte Liturgie, einen Papst, ein kirchliches Lehramt, einen Katechismus), war die evangelikale Bewegung von Anfang an eben genau dies: eine Bewegung. Zwar mit gemeinsamen theologischen Grundsätzen (wie wir sehen werden). Aber irgendwie auch immer recht breit aufgestellt, eine Zeltstadt mit vielen Zelttypen. Und im Prinzip konnte jeder sein Zelt dazustellen, der irgendwie eine Verbindung verspürte.


Ich finde es äusserst spannend, den Dialog zwischen Evangelikalen und Katholiken zu beobachten, weil dieser etwas über uns Evangelikale offenbart - beispielsweise gut zu sehen bei der Initiative Evangelicals and Catholics Together. Der Historiker Carl Trueman beobachtet dabei folgendes:

Während beide Teilnehmergruppen wohl selbsternannt waren, traten die Katholiken zumindest als Vertreter einer Kirche auf und wussten, für wen und wofür sie eintraten. Wen genau repräsentierten die Evangelikalen?

Natürlich ging es dabei auch (oder vor allem) um Lehrfragen. Es ging um das Thema Einheit und wie man Einheit ausdifferenziert - und dazu gehören dogmatische Fragen nun mal mit dazu. Doch gerade hier offenbarte sich der Unterschied am stärksten:

Katholiken fühlten sich aufgrund ihrer Kirchenzugehörigkeit einem klaren Satz doktrinärer Prinzipien verpflichtet. Dieses Engagement gab ihnen einen Standpunkt, von dem aus sie sich engagieren konnten. Die Evangelikalen hatten so etwas nicht, keinen Ort, an dem sie stehen konnten, keinen Ort, von dem aus sie sich engagieren konnten.

Die evangelikale Bewegung ist eben keine kirchliche Institution. Sie ist eine 'eklektische Bewegung verschiedener Kirchen und Einzelpersonen', ein Geflecht aus Beziehungen. Ihr Zusammenhalt ergibt sich aus gemeinsam geteilten Affinitäten - 'nicht alle, nicht einmal viele davon sind doktrinärer Natur.' Carl Trueman's Fazit ist, dass eine Bewegung wie die Evangelikalen unweigerlich in die Breite tendieren wird, auch gerade in die theologische Breite, wo man den kleinstmöglichen Nenner zu finden sucht und zu finden hofft.


Wie jetzt schon durchdrückt, hat die Frage nach der Einheit für mich eine theologische Grundnote. Nun kann man sich natürlich fragen, ob es überhaupt ein dogmatisches Zentrum braucht, damit Einheit entstehen kann? Die evangelikale Bewegung der letzten Jahrzehnte 'definierte' sich stärker über das, was man tut (Aktivismus) oder über das was funktioniert (Pragmatismus). Man versammelte sich an Willow-Kongressen, um darüber nachzudenken, wie Kirche wieder relevanter sein könnte. Oder man beteiligte sich an 'Missionen' zur Wiederherstellung von sozialer Gerechtigkeit oder Strasseneinsätzen, um Menschen 'da draussen' zu erreichen. Vielleicht nahm man an grossen Gebetsinitiativen teil, zusammen mit vielen anderen Christen aus anderen Gemeinden, um gemeinsam für diese Welt zu beten. Und das alles (und vieles andere mehr) zeichnet die Evangelikalen doch aus! Man könnte ja auch herausstellen, dass solche Aktionen viel bewegt haben. Wie kann dann dieses Fazit von Kenneth Stewart gerechtfertigt werden?

Die unbeabsichtigte Folge dieses Aktivismus und Pragmatismus gekoppelt mit einem doktrinären Minimalismus ist, dass große Teile der evangelikalen Bewegung besonders anfällig für das sind, was man nur als „Modetrends“ bezeichnen kann. (Aus seinem Buch In Search of Ancient Roots: The Christian Past and the Evangelical Identity Crisis, S. 263)

Wie auch immer man zu diesem Statement Stellung beziehen will, es ist völlig logisch, dass eine Identität, die auf 'Modetrends' gründet, keine Stabilität generieren kann. Denn Trends kommen und gehen: Gemeindebautrends, Spiritualitätstrends, Worshiptrends, Evangelisationstrends (und vielleicht sogar theologische Trends). Wenn wir unsere Einheit vor allem um solche Trends herum aufbauen, bin ich mir alles andere als sicher, dass sie den 'Stürmen der Zeit' standhalten wird. Es braucht mehr. Es braucht eine Einheit, die auf einem gemeinsamen (theologischen) Bekenntnis beruht.



Aber: lässt sich die evangelikale Bewegung überhaupt theologisch definieren?

Der Evangelikalismus der letzten drei Jahrzehnte wird durch gemeinsame Komponenten bestimmt, die weitgehend von jeder theologischen Definition abgekoppelt sind. (schrieb D. A. Carson im Jahr 1996!, The Gagging of God: Christianity Confronts Pluralism, S. 454)

Carson kritisiert damit eine verkürzte soziologische Beschreibung des Evangelikalismus. [1] Man fragt sich: Und was war vorher? Da war doch definitiv noch mehr.

Man sollte sagen, dass der Evangelikalismus bis vor Kurzem [das heisst doch schon seit einigen Jahrzehnten jetzt] versucht hat, sich in erster Linie in theologischen Kategorien zu definieren, und dass sich dieser Schwerpunkt bei vielen, die sich immer noch an dieses Etikett halten, offenbar verändert. (S. 456)

Wo auch immer man den Ursprung der evangelikalen Bewegung festmachen will, um eine gemeinsame (theologische) Basis für eine Einheit untereinander zu formulieren, man müsste historisch dahin zurückgehen, wo diese Basis bekannt war, vielleicht sogar ausformuliert wurde. Genauso wenig wie heute einer kommen und behaupten kann, er gehöre den Zeugen Jehovas an, ohne deren Glaubensgrundlagen geprüft zu haben, kann man sagen, man sei 'evangelikal', ohne Prüfung der eigenen Herkunftsgeschichte.


Wie kann diese theologische Basis der evangelikalen Bewegung (von früher) formuliert werden? Kann sie?


Antwort 1: Die evangelikale Bewegung ist kein 'neuer Player' auf dem christlichen Markt, auch wenn sie neue (moderne) Akzente setzte. Vielmehr steht sie in Verbindung mit dem 'originalen Christentum' der apostolischen Kirche und danach. [2] Dies war die Auffassung von John Stott, einem der prägendsten Figuren der Bewegung:

Richtig verstanden, sind der christliche Glaube, der katholische Glaube, der biblische Glaube und der evangelikale Glaube ein und derselbe ... Wenn evangelikale Theologie biblische Theologie ist, folgt daraus, dass sie kein neu-modischer „Ismus“, eine moderne Form des Christentums ist, sondern eine alte, tatsächlich die ursprüngliche Form. Es ist das neutestamentliche Christentum. (Zitiert in Stewart, Search for Ancient Roots, S. 16)

Anders gesagt, wir Evangelikalen sollten auch mal rückwärts schauen. Nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf die lange, lange Geschichte der christlichen Theologie, so dass wir unsere eigene theologische Identität besser verstehen und einordnen lernen. Einen solchen Versuch unternimmt Gavin Ortlund (ich lasse das Zitat auf Englisch):

Now, to be sure, it is possible to so emphasize "mere Christianity" ... that we lose our Protestant distinctives. But it is also possible to so bask in our denominational enclave that we lose touch with the entire Christian tradition. We ... need a balanced historical identity. (Gavin Ortlund, Theological Retrieval for Evangelicals, S. 84)

Unter Antwort 1 geht man davon aus, dass genug Fleisch am evangelikalen Knochen ist (zumindest früher war), so dass man einen theologischen Kern in Kontinuität mit der Bibel und der christlichen Tradition formulieren kann. Der evangelikale Glaube will also nichts weiter sein als 'der biblische Glaube' der Apostel. Diesen Glauben gilt es zu bewahren. Christliche (evangelikale) Einheit kann nur dort stattfinden, wo dieser Glaube im Zentrum steht und bekennt wird.


Antwort 2: Wenn Stott, Packer und Co. zu ihrer Zeit von einem festen theologischen Kern ausgingen, die evangelikale Bewegung bleibt theologisch schwammig. Warum? Es mag sein, dass Stott und Co. damals mit einer grossen theologischen Übereinstimmung nach vorne preschen konnten. Sie hatten diesbezüglich ein Momentum, das wir aber heute so nicht mehr vorfinden. Heute versammelt sich viel grössere theologische Diversität unter dem evangelikalen Dach, so dass es für uns schwierig bis unmöglich wird, selbst bei den sogenannten Kernthemen einen gemeinsamen Nenner zu formulieren. Trueman, den wir eingangs dieses Artikels zitiert haben (er spricht von Evangelikalismen) meint:

Heutzutage ist der Evangelikalismus so vielfältig, dass seine Identität nicht in der gemeinsamen Lehre oder Erfahrung entdeckt werden kann ... man kann ihn fast nur 'negativ' definieren (z. B. sind Evangelikale keine Katholiken und keine liberalen Landeskirchler). (The Real Scandal, S. 19)

Warum könnte diese Aussage stimmen? Selbst wenn Stott, Packer, Graham und wie sie alle hiessen eine theologische DNA teilten, es wurde kein verbindliches Bekenntnis formuliert, kein Katechismus geschustert, kein Gremium etabliert, das über die 'rechte evangelikale Lehre' wachen würde. Es gibt schon Bekenntnisse bei den Evangelikalen, so wie das Glaubensbekenntnis der weltweiten evangelischen Allianz, oder in Deutschland die Glaubensbasis der evangelischen Allianz . Doch wer diese Glaubensbasis liest, die kaum eine A4-Seite füllt, könnte schnell zum Schluss kommen, dass eine Erklärung wie diese einfach zu mager ist, um eine ausgeprägte evangelikale Identität zu konstituieren. Würde nicht auch ein Katholik oder sonst ein 'konservativerer' nicht-evangelikaler Christ diese Erklärung mit gutem Gewissen unterschreiben können? Jetzt könnte man ja sagen: 'Immerhin haben wir diese wenigen Grundlagen. An ihnen sollten wir doch wenigstens festhalten.' Unbedingt! Dies gerade angesichts der Tatsache, dass man heute selbst diese wenigen Grundlagen 'dekonstruiert' und hinter sich lässt. Aber ob ein Festhalten an einer solch schmalen Glaubensbasis uns für die heutige Zeit genug fest zusammenkittet und durch die emergenten Probleme hindurchretten wird? Trueman zweifelt dies an.


Unter Antwort 2 denkt man, dass die evangelikale Bewegung seit jeher divers war, oder zumindest heute so vielfältig ist, was es schwierig macht, einen gemeinsamen Kern zu benennen. Wenn das in früheren Zeiten 'intuitiv' (ohne ein solides Bekenntnisschreiben) möglich war, wird dies heute nicht mehr gelingen, da wir es mit ganz verschiedenen Intuitionen, die alle mit dem Label 'evangelikal' kommen, zu tun haben. Es gibt kein klares 'evangelikales' Gravitationszentrum (mehr), nur noch verschiedene, mehr oder weniger lose miteinander verbundene Evangelikalismen.



Ein erstes Fazit: Hier ist die Vielfalt - und wo ist die Einheit?

Die evangelikale Bewegung von heute ist enorm breit aufgestellt. Brian McLaren zählte einst als einer der 25 einflussreichsten Evangelikalen. In eine ähnliche Liste gehört Tim Keller. Aber, die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein (ich würde meinen, das Tim Keller theologie- und glaubensmässig sehr viel näher bei einem Katholiken steht als bei McLaren). Das (theologische) Spektrum ist gigantisch. Trotzdem hat die evangelikale Bewegung mindestens minimale Bekenntnisse vorzuweisen, die sie mit der christlichen Tradition verbindet und an denen sie festhalten kann. Die Frage ist: wie kann sie das tun, angesichts der enormen Bandbreite und theologischen Uneinigkeit im eigenen Lager? Eine recht verzwickte Ausgangslage, würde ich meinen. Und Grund genug im zweiten Artikel weiter darüber nachzudenken.


PS: geht es bitte nicht auch ohne Theologie (ohne Bekenntnis, Doktrin und Dogma)?

Es ist diese Frage, die ich momentan am meisten höre. Die Antwort? Nein, geht es nicht. Wenn wir dem Adjektiv 'evangelikal' gerecht werden wollen, gilt was Michael Reeves mal geschrieben hat: 'Der Evangelikalismus muss theologisch durch das Evangelium definiert werden.' (aus Gospel People: A Call for Evangelical Integrity, S. 127) Warum theologisch definiert? Weil das Evangelium eine Botschaft ist - und nicht zuerst eine Erfahrung oder ein Glaubensstil, geschweige denn etwas, das man täte (eine Aktion) - und Botschaften haben nun mal einen inhaltlichen Gehalt, der im Fall des Evangeliums hochtheologisch daherkommt: Gott hat die Welt durch Jesus Christus mit sich versöhnt. Wer ist Gott? Was ist mit der Welt los? Warum Versöhnung? Wie hat Jesus uns mit Gott versöhnt? Leute, ohne Theologie lassen sich Fragen dieser Art nicht beantworten.


Ich weiss, die Frage ist damit für manche noch nicht befriedigend beantwortet. Weitere Überlungen finden sich hier: Evangelikale und das Problem der Theologie.



[1] Für historisch Interessierte: D. A. Carson offerierte seine Kritik dieses 'soziologischen Approaches' in Auseinandersetzung mit Richard Lints, einem evangelikalen Theologen. Carson's Gedanken sind aufschlussreich: 'Lints offers his critique because he rightly perceives that evangelicalism (as defined by sociological categories) has in recent decades squandered so much of its theological heritage that it is becoming harder and harder to define it primarily in theological terms. But there are not a few others who are using the same sociological categories in order to weaken evangelicalism's historic theological distinctives. If they can convince enough people that evangelicalism has always been primarily a movement defined not by beliefs and doctrines, but by other concerns, then it becomes easier to stretch the label "evangelical" to include more and more people today who ignore those doctrinal distinctions.' (Gagging of God, S. 458)


[2] Neben der Ansicht von John Stott u.a., die ich übrigens Teile (ich sehe ganz klar mehr Kontinuität als Diskontinuität der evangelikalen Bewegung zur frühen Kirche), erkennen andere entschieden mehr Diskontinuität und die evangelikale Bewegung demzufolge als eine substantiell neue Form des christlichen Glaubens. (Kenneth Stewart bespricht all die verschiedenen Möglichkeiten in seinem Buch, S. 14-21).

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