Gott antwortete: Ich bin, der ich bin! (2 Mose 3,14, Hoffnung für Alle)
Sam ist non-binär. 'Ich stehe jeden Tag auf und fühle mich anders. Manchmal bin ich agender, d. h. ich habe kein Gender. Teilweise fühle ich mich etwas femininer, dann wieder maskuliner.' [1] Das war schon immer so, obwohl Sam (biologisch gesehen) als Mädchen geboren wurde: 'Ich spielte mit Lego und Puppen, meine Welt war klein und bunt. Ich wusste damals noch nicht, dass die Leute bei mir vor allem rosa sahen ... Als ich älter wurde, traf ich auf Kinder, deren Welt weniger bunt war, sie war entweder blau oder rosa, sie spielten mit Puppen oder mit Lego ... In mir drin waren Rosa und Blau zu einer Farbe vermischt, mit der ich mich wohlfühlte, ein Grau, das keiner Kategorie zuzuordnen war.'
Mit einer solchen Mehrfarbigkeit konfrontiert zu sein, kann zu einer Bürde werden. Man leidet, weil man nicht zu den gängigen Farben dazu passt. Ein öffentliches Bekenntnis kann dann befreiend wirken: 'Trans sein heisst für mich, mich selbst sein zu können und zu mir stehen zu können.' Wie wir sehen, geht es hier um tiefe Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Kann ich so sein, wie ich fühle, dass ich bin? Ist meine (sexuelle) Identität valide? Auf der anderen Seite leben Trans-Menschen eben gerade in einer permanenten Spannung, wegen ihrer Farbgebung nicht zum 'normal Binären' dazuzugehören. 'Wenn mich jemand kategorisiert, senke ich den Kopf und schweige. Ich fühle mich immer nur als Gast, entweder in der rosa Welt oder in der blauen Welt. Mein eigenes Zuhause gibt es nicht.'
Sexuelle Identität als spätmodernes Problem?
Selten wurden Identitätsfragen so dringlich und so anhaltend gestellt wie in der heutigen Zeit. Früher war es gesellschaftlich völlig klar: 'Es ist ein Junge', oder 'es ist ein Mädchen!' Etwas dazwischen gab es ja wohl nicht! [2] Mehr noch, an das biologische Geschlecht waren bestimmte Rollenbilder gebunden. Die Frau bringt Kinder zur Welt und führt den Haushalt, der Mann sorgt für die Kohle. Die sexuelle Revolution seit den 1960er Jahren hat dieses Rollenverständnis gehörig durchgeschüttelt und ins Wanken gebracht. Dies ereignete sich in verschiedenen Wellen: Einer Loskopplung von Sex und Ehe (Befreiung der Sexualität?), dem feministischem Einsatz für die Gleichstellung der Frau in der Berufswelt und in der Familie (Befreiung von alten Rollenbildern), dem Aufkommen der Gay-Bewegung und ihrem Einsatz für eine gesellschaftliche Akzeptanz von Schwulen und Lesben (Befreiung vom 'binären' Verständnis, dass normale Sexualität sich zwischen Mann und Frau abspielt). Zuletzt erleben wir nun, eigentlich als konsequente Fortsetzung der sexuellen, die Gender-Revolution: Eine totale Loslösung (Befreiung?) von biologisch gegebenem Geschlecht und 'sexueller' Identität. Die Revolution präsentiert sich als grosser Befreiungsschlag gegen das traditionelle Patriarchat, als ein Abstreifen der Jahrhunderte alten bigotten Zwangsjacke. Endlich darf jede und jeder selbst bestimmen, wie sie oder er seine Sexualität gestalten möchte! Das soll zunächst mal 'nur' eine Feststellung und keine Wertung sein. Als Christ darf ich viele positive Effekte entdecken, welche die sexuelle Revolution unserer spätmodernen Gesellschaft gebracht hat (so wie dass Frauen heute viel mehr Möglichkeiten offen stehen, ihr Frau sein in Familie und Beruf zu gestalten).
Was bedeutet Freiheit eigentlich? Hollywood beantwortet uns diese Frage recht gern. Kommt dir diese Aufstellung bekannt vor? Ein eingeschüchtertes Mädchen, das sich den gesellschaftlichen Zwängen ihres Dorfes fügen muss. Weiter ein bigotter Priester, der im alten System lebt (dieses aber gleichzeitig unterwandert und damit demonstriert, wie unmöglich und reformbedürftig dieses System ist). Dann eine avantgardistische 'Erlöser-Figur', die dem Mädchen den Weg zur Freiheit aufzeigt. Meistens irgendwo in der Mitte des Plots geschieht schliesslich der ersehnte Durchbruch der Protagonistin zur Freiheit: Das Coming-Out, das Eingeständnis von nun an zu sich selbst zu stehen, egal was andere denken, der Aufbruch in ein neues Land der neuen Möglichkeiten. Als Zuschauer fühle ich mit und atme erleichtert auf, wenn die Unterdrückte endlich zu sich stehen darf, wenn sie es schafft, aus den alten Zwängen ins neue Leben auszubrechen.
Moderne Identität und moderne Freiheit stehen im Einklang miteinander. 'Ich sein' heisst frei sein von allen äusseren Zwängen. MEINE Identität ist nicht etwas, das mir 'von aussen' gegeben oder zugesprochen wird, sei es durch meine Eltern, die Gesellschaft, Gott oder sogar meiner Biologie. Meine wirkliche Identität ist das, was ICH empfinde. Ja, man könnte sagen, dass die moderne Suche nach dem wahren Selbst (paradoxerweise) bei mir selbst anfängt. Und wenn meine inneren Gefühle und Gedanken über mich nicht mit der äusserlichen Realität, selbst meinem Körper übereinstimmen, ist das Einzige, was zu tun bleibt, diese äusserliche Realität zu verändern und sie in Einklang mit meinen Gefühlen und Gedanken zu bringen. Dieser modernen Identitätsfindung wird moralisches Gewicht verliehen: Zu dem zu werden (oder sich zu dem zu machen), der oder die man 'eigentlich' ist bedeutet, ganzer und wahrer Mensch zu werden. Die Suche nach deiner Identität kommt mit einer Aufforderung: Sei ganz dich selbst!
Warum das für (konservative) Christen immens herausfordernd ist - oder, warum die Kirche gegen Hollywood so wenig Chancen hat!
Früher wurde Genderdysphorie pathologisiert. Heute kommt man als Trans-Mann oder Trans-Frau zur Welt. Ein NZZ Artikel spricht diesbezüglich von einer 'Entpsychiatrisierung der Trans-Diagnostik':
Wer sich als Transgender fühlt, so die erkennbare Absicht, soll selber bestimmen, was das Beste für ihn ist. Der diagnostische Prozess könnte in Zukunft weiter abgekürzt werden und eine lange psychologische Behandlung unnötig werden, bevor man die ersten Schritte zum gewünschten Geschlecht vornimmt. Es wird noch einfacher, dass bereits Kinder Pubertätsblocker erhalten. Für die nachfolgende Hormonbehandlung, mit der man heute oft schon im Alter von 13, 14 Jahren beginnt, reichen der Wille der Betroffenen und unterstützende Eltern. Nach der hormonellen Anpassung drängen sie zur Brustamputation, zur Verschmälerung des Beckens und zum künstlichen Penis, ohne in einer Psychotherapie besprechen zu müssen, warum ihnen das hilft. [3]
Das macht die Situation für Ärzte und Psychologen nicht einfach. Darf ein Psychologe oder Arzt noch (psychologische oder medizinische) Bedenken anmelden, wenn ein zwölfjähriges Kind eine Geschlechtsumwandlung vornehmen will, oder gilt dies dann direkt als diskriminierend?
Heute verschaffen sich Trans-Aktivisten lautstark Gehör mit ihren moralisch aufgeladenen, politischen Forderungen, die eine Minderheit betreffen, denen sich die Mehrheit aber anpassen soll. Der Verdacht ist nicht ganz abwegig, dass sich Ärzte diesem Zeitgeist beugen, um ihre Sensibilität für soziale Gerechtigkeit zu beweisen und nicht als transphob zu gelten.
Das gesellschaftliche Klima hat sich eindeutig in die eine Richtung erwärmt: Alle sexuellen Minderheiten sind automatisch die Opfer, wogegen alle traditionellen Institutionen mit ihren konservativeren Meinungen automatisch die Unterdrücker sind. In diesem moralischen schwarz-weiss Schema von 'gut gegen bös' ist es offensichtlich herausfordernd eine konservative Meinung zu vertreten, ohne gerade als Behinderer der sozialen Gerechtigkeit gebrandmarkt zu werden. Denn Gerechtigkeit heisst ja gerade, sich von äusserlich gegebenen (auch traditionell festgelegten) 'Identitäten' zu befreien, um wahrer Mensch zu werden. Wer sollte dieses Bestreben schon behindern wollen? Das für mich Paradoxe daran ist, dass die politische Gender-Maschinerie so viel Druck aufsetzt, dass sie ihre (normative) Meinung geradezu aufzwingt. Man liest auch von ärztlichen Praktiken, suchende Teenager fast dazu zu drängen, ihr Geschlecht zu wechseln, wenn sie unter Genderdysphorie leiden. [4] Der Unterscheid dabei ist einzig, dass die Genderideologie halt als politisch korrekt gilt.
Auf der anderen Seite dürfen wir die Augen nicht vor der Realität verschliessen, dass Genderminoritäten (immer noch) mit viel Unverständnis konfrontiert und gesellschaftlich diskriminiert und ausgegrenzt werden. Die Familie, die ihr Kind ausgrenzt, weil es farblich nicht mehr hineinpasst. Die Freunde, die sich plötzlich distanzieren. Die Schwierigkeit, als Transgender-Person eine Anstellung zu finden. [5] Die Unterdrückungsstory räsoniert nur darum so gut, weil etwas daran ist.
Mindestens genauso herausfordernd wird es im persönlichen Bereich der Beziehungen. Wie begegne ich einem Trans-Menschen? Dieser Mensch stellt genauso wie jeder andere Mensch die Frage: 'Bin ich ok, so wie ich bin?'. Sam wünscht sich, 'dass Eltern ihre Kinder so nehmen können wie sie sind und sie bedingungslos lieben.' Ein absolut verständlicher, legitimer Wunsch. Doch heisst bedingungslose Liebe und Annahme, dass man automatisch mit allem einverstanden ist, was das Gegenüber fühlt und denkt? In einer Kultur des uneingeschränkten Selbstbestimmungsrechts des Individuums wird es sehr schwer, nicht mit einem Ja zu antworten. Wir wollen ja niemandem seine Identität absprechen. Und wenn meine Auffassung sogar noch in Verbindung mit irgendeiner kirchlichen Institution steht? Sind nicht gewisse Glaubenssätze der Kirche nicht nur altbacken, sondern geradezu moralisch verwerflich, diskriminierend und unmenschlich?
Wenn ich Sam's Interview lese, stelle ich fest: Ich fühle mit. Die Realität von Sam's Kämpfen lässt mich nicht einfach kalt. Das Mitgefühl, das ich empfinde, bringt mich aber in einen Klinsch mit meiner moralischen Überzeugung, dass es irgendwie 'falsch' ist, sein persönliches Gefühl über den eigenen Körper zu setzen. Und dass ich befürchte, dass die geglaubte Freiheit am Ende nicht halten wird, was sie verspricht.
Erste Schritte eines vorwärtsstolpernden, konservativ-orientierten Christen
Der Weg vorwärts ist tatsächlich nicht so einfach. Das eigentlich Wichtigste ist, dass wir Christen uns der Schönheit und Wahrheit von Gottes Plan fürs Menschsein (auch im Bereich Sexualität und Identität) neu bewusst werden (etwas, das ich in einem zweiten, nachfolgenden Teil zu diesem Artikel versuchen werde). Doch bevor wir dies tun, schlage ich vor, dass wir zunächst einmal innehalten und eine kurze Bilanz ziehen, wo unsere Gesellschaft heute in Bezug auf die Frage nach Sexualität und Identität steht.
Die sexuelle Revolution eroberte uns als Narrativ der Freiheit. Sie versprach uns mehr sexuelle Freiheit, mehr Möglichkeiten, um unsere Identität zu gestalten, mehr (sexuelle) Erfüllung und Leben. Dabei frage ich mich zwei Dinge. Waren die Menschen früher wirklich so unfrei? Und stimmt es, dass wir heute wirklich freier sind? [6] Ganz kurz zur ersten Frage. Das Narrativ der sexuellen Revolution zeichnet das Bild eines Exodus aus der Sklaverei einer gesellschaftlichen Prüderie und patriarchalischen Unterdrückung. In früheren Umständen konnten Frauen unmöglich ein erfülltes Dasein finden, weil sie nicht frei waren, sich individuell auszudrücken. Es stimmt, dass die Frau heute ihre Leben in viel grösserem Mass selbst gestalten kann - und das soll bitte so sein! Ich frage mich nur, ob damals wirklich alle Frauen existenziell unglücklich waren, oder ob nicht manche in ihren zugewiesenen Rollen sogar aufblühen konnten? Mich stört diese schwarz-weiss Färbung: früher war alles schlecht, heute ist alles gut.
Die zweite Frage scheint mir wichtiger: Sind wir heute wirklich frei? Es stimmt, uns stehen heute massiv viel mehr Möglichkeiten offen frei zu wählen, vom Joghurt bis zu unserem Geschlecht. Ob das jetzt gut oder nicht gut ist, darüber gehen die Expertenmeinungen auseinander. Ich persönlich empfinde es als Segen, verschiedene Wahlmöglichkeiten zu haben, auch wenn die Wahl manchmal zur Qual werden und überfordern kann. Eines dürfen wir dabei nicht vergessen. Wir sind uns nämlich nicht wirklich bewusst, wie sehr wir von unserer Zeit, dem gesellschaftlichen Mainstream und sogar den Mechanismen des 'freien' Marktes mitbestimmt werden. Wieso müssen denn alle Jugendlichen die gleichen Markenschuhe haben, um ihre individuelle Identität auszudrücken? Glynn Harrison schrieb diesen treffenden Satz dazu:
In einer manipulativen Konsumgesellschaft sind wir weit davon entfernt, die Architekten unseres eigenen Schicksals zu sein. Vielleicht ist die ganze Idee dieser 'Selbst-Erfindung' auch nur ein weiterer Marketingtrick, etwas, das uns angedreht wird und der eigentliche Treiber dahinter ist gar nicht das einzelne Individuum. [7]
Das Problem ist relativ klein, wenn ich mich für ein Joghurt entscheiden muss, nur um am Ende zu merken, das mir dieses Produkt durch marketing-technische Tricks 'empfohlen' worden ist. Wenn es aber um meine sexuelle Identität geht, steht viel mehr auf dem Spiel. Bin es wirklich ich, der bestimmt? Kann ich mich auf mein inneres Gefühl verlassen, das heute in diese und morgen in jene Richtung schwingt? Kann ich mir die Sicherheit und Stabilität selbst geben, um in dieser fragmentierten Gesellschaft wirklich Ich selbst zu sein? Hinzu kommt das Problem, dass ich mit immer mehr Möglichkeiten konfrontiert bin. Facebook gibt mir über sechszig verschiedene Optionen meine sexuelle Identität anzugeben. Wie kann ich sicher sein, dass ich die Richtige wähle? Gut, in einer solchen Optionsvielfalt kann man auch einen anderen Weg einschlagen und Fluidität zelebrieren. Heute dies und morgen das. Auf diese Art ist man frei vom Festgelegten. Aber ist man so auch frei für eine feste, vielleicht sogar lebenslange Beziehung?
Ich möchte damit keinesfalls leugnen, dass es Menschen gibt, die existenziell mit ihrer sexuellen Farbe, ob sie nun blau oder rosa sind, hadern und kämpfen. Menschen, die nicht nur vor einer Qual der Wahl stehen, sondern die sich innerlich wirklich quälen zu verstehen, wer sie sind. In unserer Welt ist nicht immer alles offensichtlich. Manches ist verschwommen, manches ist umkämpft, manches ist nicht so, wie es sein sollte.
Darf ich mir erlauben, anderer Ansicht zu sein? Kann ich solche Menschen wie Sam ehrlich lieben und annehmen und trotzdem anderer Meinung sein? Kann ich Mitgefühl und Leidenschaft empfinden, mich mit ihnen gemeinsam gegen gesellschaftliche Diskriminierung einsetzen und doch im Grunde anders denken? In der öffentlichen Debatte geht das nicht mehr. Im persönlichen Leben sollte es möglich sein. In einer persönlichen Beziehung stossen wir früher oder später sowieso auf Identitäts-Triggerpunkte bei denen wir merken werden, dass wir anders denken und ticken und uns trotzdem gern haben können. Es ist nicht einfach, aber wann war Beziehung schon jemals einfach? Als Christ begegne ich meinem Gegenüber in Demut und Liebe, selbst wenn mein Gegenüber völlig anders drauf ist als ich. Und in einer gewachsenen Beziehung darf ich es mir dann auch erlauben, anderer Meinung zu sein. Nicht nur bei der Wahl des Joghurts, sondern sogar bei Identitätsfragen.
________________________________________________________________________________
[2] Ich bin mir der Realität von Intersex-Personen bewusst, meine aber, dass dies eine recht kleine Minderheit betrifft.
[4] So vor kurzem im Magazin von Zukunft-CH gelesen. Zurück zum Text
[6] Glynn Harrison bringt in seinem Buch 'A Better Story: God Sex & Human Flourishing' den wissenschaftlichen Befund vor, dass der generelle Durchschnittsbürger heute erstens weniger Sex und zweitens eine weniger erfüllende Sexualität lebt als früher. Er schreibt: 'Untersuchungen ergeben das konsistente Bild, dass [Menschen heute] anstatt mehr und besseren Sex eher das Gegenteil erleben. Niemand weiss warum dies so ist. Doch ganz klar wird, dass die sexuelle Revolution eines ihrer Hauptversprechen nicht einlöst.'
[7] Seite 116.
Comentários