Kürzlich durfte ich das Buch 'Understanding Transgender Identities: Four Views' lesen [1], das ich jedem denkenden Christen empfehle. Warum? Nicht weil ich glaube, dass Dialog alles ist und man keine eigene, auch konträre Meinung zu heiklen Themen mehr haben sollte. Sondern weil wir es uns nicht (mehr) leisten können, nur die eigenen Standpunkte zu wiederholen, ohne zuvor den anderen zugehört zu haben. Und genau darum geht es in diesem Buch (und der ganzen Buchreihe insgesamt).
Soviel zum Vorwort, nun zum eigentlichen Thema. Die Transgender-Debatte fliegt, im öffentlichen Diskurs und am Stammtisch, sowie eben auch unter Christen. Doch wer hat gewusst, dass es fast so viele christliche Meinungen gibt, wie es Transgender-Identitäten gibt? [2] Sich hier eine Meinung zu bilden ist herausfordernd. Mein Ziel mit diesem Blog ist (noch) nicht, meine eigene Meinung zu unterbreiten, sondern für einmal das Spektrum aufzuzeigen. Versteh dies bitte als eine Übung zum Dialog und als Vorstufe zur eigenen Meinungsbildung. [3]
Was ist Transgender überhaupt?
Bei Google lesen wir: 'Transgender bedeutet, dass das eigene Geschlecht nicht mit den körperlichen Merkmalen übereinstimmt.' Gender bezieht sich auf das Geschlecht oder die Geschlechtsidentität, die ein Mensch für sich empfindet. Diese muss nicht zwingend mit dem biologischen Geschlecht kongruent sein. Trans bedeutet 'hin zu, hinüber' und meint, dass man seine biologische Geschlechtsidentität auch verlassen, resp. zu einer anderen, neuen Geschlechtsidentität hinüberwechseln kann.
Hier tut sich ein erster Fragenkomplex auf. Ist Transgender-Identität etwas, das man 'frei' wählen kann, oder ist sie gewissermassen 'gegeben'? Wähle ich mir meine Geschlechts-Identität frei nach Katalog aus (wenn ich z. B. ein Mann bin und nun lieber eine Frau sein möchte), oder gibt es andere Komponenten, die mich feststellen lassen, dass meine persönliche Empfindung nicht mit meinem biologischen Geschlecht übereinstimmt? Selbstverständlich wird diese Frage ganz unterschiedlich beantwortet.
Antwort 1: Meine Gender-Identität ist auf die eine oder andere Art 'natürlich' gegeben. Da gibt es z. B. die neurologische Theorie des männlich oder weiblich verdrahteten Gehirns. Könnte es sein, dass mein biologisches Geschlecht zwar männlich ist, mein Gehirn aber feminin tickt? Andere Theorien versuchen sich das Phänomen anderweitig 'biologisch' zu erklären. Denn es gibt so etwas wie eine 'biologische Inkongruenz' in der Geschlechterfrage. Das sicher prominenteste Beispiel sind die Intersex-Geschlechter, die von Geburt an weder explizit männlich noch weiblich sind. Auch hier gibt es ein Spektrum: Mischungen von sogenannt femininen und maskulinen biologischen Aspekten in einem Körper (sowie eine untypische Anordnung der Chromosomen, u.a.). Wenn schon der Körper weder eindeutig das eine noch das andere ist, liegt der Schluss nahe, dass der betroffene Mensch sich in die eine oder andere Richtung entscheiden kann.
Antwort 2: Meine Gender-Identität muss nicht unbedingt biologisch determiniert sein. Vielmehr ist mein Gender etwas, das ich zutiefst fühle, eben etwas auf der Identitäts-Ebene, das im Kern mit mir als Person zu tun hat. Vielleicht habe ich ein feminines Geschlecht und wurde in dem Sinne auch als Mädchen erzogen, fühle mich aber mehr als Mann (und fühle mich deshalb in der weiblichen Haut unwohl). Das könnte natürlich mit biologischen Faktoren zusammenhängen, muss aber nicht unbedingt. Was für einen Handlungsspielraum hat ein Mensch in diesem Dilemma? Die radikale Variante: Identität und Geschlecht haben nichts miteinander gemein. Es besteht keine wechselseitige Beziehung zwischen ihnen. Demzufolge kann ich (und sollte ich vielleicht sogar) mein biologisches Geschlecht anpassen. Die konservativere Variante: Das biologische Geschlecht spielt immer noch eine normative Rolle und dient als Orientierungspunkt, auch wenn man zur Zeit (noch) anders fühlt. Geschlechtsumwandlung ist nicht die richtige Lösung, sondern eher Therapie (vielleicht liegt die Lösung auch dazwischen, in einer Hormontherapie beispielsweise).
Je nachdem ob man Gender-Identität als etwas 'natürlich Gegebenes' oder als etwas 'frei Wählbares' sieht, beeinflusst die weiteren Überlungen. Beispielsweise, wer 'nichts dafür kann' wie er ist, der ist auch nicht moralisch verpflichtet. Kann es eine Sünde sein, wenn ein Mann lieber eine Frau (oder etwas dazwischen) sein möchte, wenn 'seine Biologie' dies begünstigt? Umgekehrt gefragt, könnte es auch sein, dass sowieso jeder Mensch mit einer gewissen Disposition zur Sünde zur Welt kommt, dass ihn dies aber nicht aus seiner moralischen Verantwortung vor Gott 'herausnimmt'? Was ist mit denen, die eine Veranlagung zu Wut haben, die viel schneller zu Wutanfällen neigen als der introvertierte Phlegmatiker? Sind sie damit einfach so aus dem Schneider, weil sie ja aufgrund ihrer Persönlichkeit gar nicht anders können? Oder müssen sie auf die eine oder andere Weise für ihre Wut (oder dem was sie anrichtet) Verantwortung übernehmen?
Was sagt die Bibel zu Gender?
Alle vier vorgestellten Positionen im oben erwähnten Buch berufen sich auf die Bibel als Grundlage in allen entscheidenden Lebensfragen, so auch bei der Gender-Debatte. Und doch kommen sie auf so unterschiedliche Lösungen. Warum?
Die Unterschiede manifestieren sich in der jeweiligen Lesart der biblischen Story von Schöpfung, Sündenfall, Erlösung bis Neuschöpfung. Für die konservative Seite ist die Schöpfungsgeschichte ganz klar binär zu lesen: Gott schuf den Mensch als Mann und als Frau, Ausrufezeichen! (Genesis 1,27) Also weder androgyn noch transmaskulin, weder XY-Frau noch Two Spirit, sondern ausschliesslich männlich und weiblich. Andere machen im Schöpfungsbericht viel mehr Grautöne aus. Nacht und Tag sind nicht nur schwarz und weiss. Es gibt ja auch eine Morgendämmerung und eine blaue Stunde. Bei Pflanzen und Tieren gibt es nicht nur die männliche und die weibliche Art, sondern auch Zwitter oder sogar Selbstbefruchter. Deutet das nicht auf eine mögliche Diversität der menschlichen Spezies hin? Eine Vielfalt, die in der Schöpfung angelegt ist und sich im Verlauf der Geschichte entfalten soll (selbst wenn männlich und weiblich der 'Standart' blieben)? Kommen wir zum Sündenfall. Was bedeutet Gefallenheit denn? Wenn man Diversität bei den menschlichen Geschlechtern als schöpfungsgegeben sieht, wird man sie nie und nimmer als 'pervertierte Formen' einordnen wollen. Im Gegenteil, was der Sündenfall mit sich brachte, ist gerade die Diskriminierung und Negierung dieser bunten Formen. Wenn man dagegen die Schöpfung des Menschen als Mann und Frau als die einzig normative Variante sieht, wird man alle anderen Gendervarianten als nicht natürlich (oder sogar als sündig) und also als Folgen der menschlichen Gefallenheit einstufen. Dementsprechend versteht man Erlösung entweder als Befreiung zur Diversität oder als 'heilende Rückkehr zum Original'.
Was bei solchen biblischen Betrachtungen ständig aus dem Hintergrund mit hineinfunkt, sind die eigenen hermeneutischen Grundüberzeugungen, wie das Wort Gottes zu lesen und auszulegen ist. Lesen wir die Bibel in Bezug auf die Gender-Frage als eine sich progressiv fortspinnende Story, vom bescheidenen (noch etwas offenen) Anfang bis zum eschatologischen Ende, das uns erst das volle Bild präsentiert? Im Alten Testament war Gottes Plan ja auch noch etwas verhüllt, der nicht nur für Israel, sondern für alle Nationen angedacht war (obwohl dieser Gedanke hier und da durchschimmerte). Wieso sollte dies nicht auch in Bezug auf die Geschlechter der Fall sein? Einverstanden, Gott schuf den Menschen ursprünglich als Mann und Frau. Doch könnte sein schlussendliches Ziel nicht eine Diversität der Geschlechter gewesen sein, ein Ziel, das sich erst im Laufe der Bibel klarer abzeichnete? Gerne verweist man auf die Aussagen von Jesus über die Eunuchen, die er im Königreich Gottes willkommen hiess (Mt 19,11-12). Vielfalt und Inklusion, nicht Monokultur und Ausgrenzung heissen die Stichworte.
Die andere Lesart versteht die Schöpfung als den Norm-gebenden Moment: so wie Gott es ursprünglich geschaffen hat, so war es gut und so soll es auch in Zukunft (wieder) sein. Die Neuschöpfung wird in gewisser Hinsicht zwar besser als die alte Schöpfung sein (siehe Offenb. 21), doch muss sie in Kontinuität zur ersten Schöpfung stehen. In Bezug auf die Gender-Thematik heisst das: Auch in der neuen Schöpfung wird es ausschliesslich Mann und Frau geben (auch wenn es die Institution der Ehe dann nicht mehr geben wird, gemäss Mt 22,30). [4] Zudem legte ja auch der Apostel Paulus im Neuen Testament erneutes Gewicht auf die Unterschiede (ja, auch die Rollenunterschiede) zwischen Mann und Frau und argumentierte dabei von der Schöpfung her (siehe Eph 5,21-33 oder 1 Tim 2,13 als Beispiele). Während sich die progressive Seite mit solchen Stellen schwer tut und sie gerne als kontextuell bedingt und daher heute nicht mehr gültig beiseite legen möchte, bilden sie für die konservativere Lesart das exegetische Rückgrat. Und, sogar Jesus bestätigte ja die Mann-Frau-Ehe und baute sein Argument dafür auf der göttlichen Schöpfungsordnung auf (Mt 19,4-5). [5]
Eine theologische Patt-Situation also? Meines Erachtens eher eine Aufforderung, noch genauer hinzuschauen. Ich finde es zum Beispiel merkwürdig, dass eine der progressiven Stimmen im Buch rein gar nicht auf die paulinischen Texte Bezug nimmt (nicht einmal in einer Fussnote)! Genauso stehen Konservative vor der Herausforderung, die Stellen mit den Eunuchen bei Jesus (und in der Apostelgeschichte der äthiopische Kämmerer) nicht einfach auszublenden, sondern genau zu verstehen versuchen, was hier gemeint ist.
Die praktische Frage: Transition oder Therapie (Seelsorge)?
Während eine Gender-Inkongruenz vor noch nicht all zu langer Zeit als pathologisch eingestuft wurde (da ist etwas nicht in Ordnung und muss geradegerückt werden), gilt es im heutigen Mainstream als 'krank', eine solche Inkongruenz überhaupt therapieren und in Richtung 'zurück zum biologischen Geschlecht' biegen zu wollen.
[Früher] versuchte eine Behandlung die gefühlte (und gelebte) Gender-Identität wieder zurück zum biologischen Geschlecht zu therapieren ... Solch eine Behandlung ist heute nicht länger ethisch vertretbar. [6]
Vielmehr verlangt christliche Nächstenliebe, dass wir unseren leidenden Mitmenschen jegliche medizinische Hilfe (zur Transition, als zur Geschlechtsumwandlung) ermöglichen. 'Medizinische Hilfe vorzuenthalten, wenn sie sich als effektiv erweisen würde, oder darauf zu bestehen, dass 'Patienten' eine 'ineffektive' Behandlung (so wie Seelsorge) fortsetzen sollen, hiesse, ihr Leiden bewusst zu erweitern!' So tönt der Zeitgeist. Und die progressiv-christlichen Stimmen singen munter mit.
Nicht ganz einfach für konservativer eingestellte Christen. Wenn die Schöpfungsordnung der Idealzustand war, muss das unbedingte Ziel unbedingt sein, dahin zurückzukehren? Oder gäbe es post-lapsarisch (nach dem Sündenfall) noch andere gangbare Wege? Transformation anstatt Transition ist sicher die gängigste konservative Antwort. Ist Gottes Geist nicht in der Lage, selbst Genderdysphorien zu heilen und Menschen nachhaltig zu verändern? Aber was, wenn Gott nicht heilt? Das hiesse dann ja, den Kampf 'gegen sein gefühltes Gender' aufzunehmen und einen vielleicht lebenslangen Weg des Leidens einzuschlagen? Wer hier eine konservative Haltung einnehmen will, muss sich diesen und ähnlich schwierigen Fragen stellen.
Die Wissenschaft (oder die wissenschaftliche Argumentation) wirft wenig Licht auf diese Angelegenheit. Es gibt Studien, die belegen wollen, dass medizinische Interventionen bis hin zur Geschlechtsumwandlung fast ausschliesslich positive Auswirkungen haben (auch gibt es individuelle Beispiele, die bezeugen, dass die Geschlechtsumwandlung ihr Leben massiv verbessert hat). Dann wieder gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass zu viel medizinische Intervention mehr (körperlichen und psychologischen) Schaden anrichtet als allgemein angenommen wird (auch hierfür gibt es persönliche Beispiele). Egal welche Position man einnehmen will, man findet wissenschaftliche 'Beweise' dafür. [7]
Am Ende ein bunter Blumenstrauss
Es gibt also nicht DIE eine christliche Meinung zum Thema Transgender, sondern einen bunten Blumenstrauss an Möglichkeiten (wen wundert's). Für die einen ist dies eine Freude, für andere eine Last. Mein Ziel mit diesem Beitrag war, die Diskussion in ihrer Komplexität ganz grob aufzuzeigen und damit ein paar Raster mitzugeben, die dabei von Bedeutung sind.
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[1] Das Buch wurde von James K. Beilby und Paul Rhodes Eddy editiert.
[2] Bei Facebook gibt es neuerdings über 60 verschiedene Möglichkeiten, um seine Gender-Präferenz anzugeben: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/geschlechter-liste-alle-verschiedenen-geschlechter-und-gender-arten-bei-facebook-13135140.html
[3] Ich zitiere bewusst keine wissenschaftlichen Studien. Dazu bin ich auch kein Experte. Wer mehr Background möchte, dem empfehle ich die Einleitung des oben erwähnten Buches zu lesen, die einen guten Überblick über den wissenschaftlichen Stand gibt.
[4] Die andere Seite wird gerade diesen Vers verwenden, um zu argumentieren, dass die Binarität Mann-Frau im Himmel aufgelöst sein wird: 'denn sie werden sein wie die Engel'.
[5] Eine spannende hermeneutische Frage lautet, ob Christus das mosaische Gesetz, die Tora, über den Haufen geworfen hat. War das Gebot, 'Eine Frau soll nicht die Ausrüstung eines Mannes tragen und ein Mann soll kein Frauenkleid anziehen; denn jeder, der das tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Gräuel' (siehe 5 Mose 22,5) als allgemein bestimmendes und allzeit gültiges Gebot gemeint? Oder war Gottes Intention dahinter, dass Israel sich auch im Bereich der Sexualität von den anderen Völker abgrenzen sollte etwas, das für die christliche Gemeinde in dieser Form heute nicht mehr von Belang ist?
[6] Seite 212, im Kapitel einer der progressiven Positionen.
[7] Siehe dazu die Einleitung von Beilby und Eddy. Hier drängt sich die Frage nach der Rolle der Wissenschaft auf. Wie wichtig oder sogar normativ sind wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn es darum geht eine christliche Position zu formulieren? Ebenso stellt sich die Frage, wie sehr man persönliche Berichte, das Erlebnis einer Person, die sich entweder für oder gegen eine Geschlechtsumwandlung entschieden hat, gewichten will. Wie wir sehen, gibt es persönliche Zeugnisse auf beiden Seiten. Solche, die sagen, dass eine Transition ihr Leben massiv verbessert hat und solche, die das genaue Gegenteil aussagen.
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