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matt studer

Was ist Freiheit? Exodus, Torah und Oprah

Aktualisiert: 7. Nov.


Der HERR, der Gott der Hebräer, hat mich zu dir [Pharao] gesandt und gesagt: Lass mein Volk ziehen, damit sie mir in der Wüste dienen!

(2 Mose 7,16)


You're gonna have to serve somebody.

Well, it may be the Devil or it may be the Lord.

(Bob Dylan)



Ich bin ein Freiheitstyp. Ich geniesse meine persönlichen Freiheiten, wie selbständiges Arbeiten, wo ich mich selber einteilen und mit dem Flow gehen kann (und mir niemand sagt, was ich heute zu tun habe). Ich brauche auch meinen persönlichen Space, in dem meine Gedanken frei fliessen und ich nicht zu fest "von aussen" eingenommen bin. Doch was heisst Freiheit in diesen Zusammenhängen? Es ist doch so, dass mit der Freiheit der Selbständigkeit dann auch die Disziplin des Selbstmanagements kommt, die "Unfreiheit" meine Ziele selber definieren zu müssen und mich intrinsisch zu motivieren, um sie zu erreichen. Und mit dem Bedürfnis nach "freiem Space" geht manchmal ein Gefühl der Einsamkeit einher - ich habe zwar freie Zeit und Raum für mich, aber es fehlt manchmal das Eingebundensein in eine Gemeinschaft.


Das Zentrum für Glaube und Gesellschaft der Uni Fribourg hat eine Diskussionsplattform lanciert, wo nicht nur Hartl sondern auch ich meinen Senf dazugeben darf. Dieser Beitrag ist ein erster Annäherungsversuch an das riesengrosse Thema "Freiheit". Und wo startet ein klassisch Evangelikaler wie ich, wenn nicht bei der Bibel (und vielleicht einem Dylan Song in Bezug auf das Zitat oben)? Und was in der Bibel veranschaulicht Freiheit mehr als die Befreiung des Volkes Israels aus ihrem Sklavendasein in Ägypten? Der Exodus steht wie eine Freiheitsstatue im Zentrum des Alten Testaments. Fest verankert bezeugt er die Heilsbotschaft: "Einst wart ihr Sklaven, aber jetzt seid ihr frei, weil Gott euch befreit hat!"



Exodus: Gott befreit sein Volk von Ägypten ...

Ich bin der HERR, dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. (2 Mose 20,2)

Das Volk Israel war nicht frei in Ägypten. Sie wurden zur Arbeit genötigt. Ihr Tagesablauf wurde von aussen bestimmt. Sie wurden geknechtet und misshandelt. So erlebte es der junge Mose, wie wir lesen: "Zu der Zeit, als Mose groß geworden war, ging er hinaus zu seinen Brüdern und sah ihre Lasten und nahm wahr, dass ein Ägypter einen seiner hebräischen Brüder schlug." (2 Mose 2,11) Dahinter stand ein Pharao, der Israel gewollt "unten halten" wollte, damit sie nicht auf einmal zu zahlreich und zu mächtig würden. Die oppressive Strategie war wohlkalkuliert:

Auf, lasst uns klug gegen es [Israel] vorgehen, damit es sich nicht noch weiter vermehrt! Sonst könnte es geschehen, wenn Krieg ausbricht, dass es sich auch noch zu unseren Feinden schlägt und gegen uns kämpft und dann aus dem Land hinaufzieht. (2 Mose 1,10-11)

Gott schaut diesem oppressiven Geschehen nur eine Weile lang zu: Gott sah nach den Söhnen Israels, und Gott kümmerte sich um sie. (2 Mose 2,25) Der biblische Gott ist einer, der den Unterdrückten aufhilft. Er schafft Recht den Bedrückten, er gibt den Hungrigen Brot. Der HERR macht die Gefangenen frei. (Psalm 146,7) Gott führte Israel durch seinen Knecht Mose aus Ägypten heraus, quer durch das tote Meer hindurch in die Wüste und zuletzt in das gelobte Land hinein. Der Exodus erwies sich als identitätsstiftend für das Volk Gottes. Nicht nur wurde und wird er jährlich durch das Passahfest zelebriert. Der Exodus mahnt Israel, dass Gottes Idee des (gesellschaftlichen) Zusammenlebens eine Idee der Freiheit ist und bleiben soll. Ich habe sie aus Ägypten herausgeführt; sie sollen nicht verkauft werden, wie ein Sklave verkauft wird. (3 Mose 25,42) Gerade weil Israel den Exodus, dieses befreiende Eingreifen Gottes erlebt hatte, konstitutierten sie eine freie Gesellschaft, wie es sie sonst im Alten Orient nicht gab. Richard Bauckham hält fest:

Aus Israels Erleben, eine Nation befreiter Sklaven zu sein, die nur einen göttlichen Herrn hat, erlangte Israel ein ... ungewöhnliches Verständnis für das gleiche Recht auf Freiheit aller Israeliten. (aus God and the Crisis of Freedom, S. 10 - m. Übersetzung)

Wir sehen diese Freiheit in der Torah eingewoben. Als Beispiel: Das Gesetz verfolgte das Ziel, jeder israelischen Familie eine gewisses Mass an wirtschaftlicher Eigenständigkeit zu ermöglichen. Denn wer ein Stück Land besitzt und sich selbst versorgen kann, gerät weniger in die Abhängigkeit eines anderen. In diesen grösseren Zusammenhang sind die "einschränkenden" Regulierungen, wie die Einrichtung des Jubeljahres zu setzen, die vorschrieben, dass erworbenes Land nach einer festgelegten Zeit wieder an den ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden sollte. Dies sollte sicherstellen, dass das Land nicht dauerhaft in den Händen von Einzelnen bleibt und sich eine Oligarchie ausbildet, wobei die Wenigen die Vielen ausnutzen können. [1]


Die Vorschriften des Gesetzes sind das eine, die praktische Umsetzung das andere. Wie wir wissen erhob sich im alten Israel doch immer wieder eine Herrscherschicht, die Land und Geld anhäufte und das Volk knechtete. Gerade darum die prophetische Kritik an der oppressiven Herrscherklasse: Weil Israel selbst in der Sklaverei war, sollte es doch bitte auch dafür schauen, dass alle Bürger frei leben können und dass die schwächeren Glieder der Gesellschaft - die Fremden, die Waisen, die Witwen - beschützt und gestützt werden. Wir sehen diese Logik in den Gesetzen zur Fremdenpolitik beispielhaft illustriert:

Und den Fremden sollst du nicht bedrücken. Ihr wisst ja selbst, wie es dem Fremden zumute ist, denn Fremde seid ihr im Land Ägypten gewesen. (2 Mose 23,9)

Wie gesagt setzte Israel dieses "egalitäre Freiheitsprinzip" gesellschaftlich und politisch nicht konsistent um. So kam es gut und gerne vor, dass man dann doch wieder Sklaven nahm (entweder Ausländer, aber auch Israeliten, die sich hoch verschuldeten und sich als Sklaven verkaufen mussten). Das mosaische Gesetz trägt dieser Realität Rechnung und reguliert sie, im Wissen darum, dass es letztlich anders sein sollte. Bauckham meint:

Die Gesetzgebung akzeptiert die Tatsache der Sklaverei, behandelt sie jedoch als eine Anomalie, die so weit wie möglich minimiert werden soll. (S. 12)

Als Beispiel: Sklaven sollten nach sechs Jahren freigelassen werden (2 Mose 21,2) und wenn man sie entliess, sollte man sie materiell unterstützen, damit sie nicht wieder in Abhängigkeit geraten (5 Mose 15,13-14). Die Logik hinter solchen Gesetze ist stets diese:

Als du in Ägypten Sklave warst, hat der HERR, dein Gott, dich freigekauft. Darum verpflichte ich dich heute auf dieses Gebot. (5 Mose 15,15) Bauckham fasst zusammen:

Diese Gesetze versuchen angesichts der wirtschaftlichen Realitäten, die [auch in Israel wieder] zur Sklaverei führten, dem Grundrecht der Israeliten auf Freiheit eine gewisse Substanz zu verleihen. (S. 12)

Der Exodus war ein, wenn nicht der konstituierende Moment für Israel. Dieses Event der Befreiung aus der Unterdrückung prägte die DNA des ganzen Volkes, das gemäss den Bestimmungen ihres Befreier-Gottes als eine freie und schon fast egalitäre Gesellschaft leben sollte, so ganz anders als die anderen Völker der damaligen Zeit. Der Auszug aus Ägypten prägte auch die Gottesvorstellung Israels: Denn ihr Gott war ein Befreier-Gott, der sich für die Freiheit aller, bis hin zu den schwächsten Glieder der Gemeinschaft und sogar für den Schutz der Tiere aussprach (siehe z. B. 2 Mose 23,5). So verwundert es nicht, dass Gott selbst sich als der Befreier vorstellt, wie am Anfang der Zehn Gebote:

Ich bin der HERR, euer Gott, der ich euch aus dem Land Ägypten herausgeführt habe, damit ihr nicht ihre Sklaven sein musstet. (3 Mose 26,13)


Gott befreit sein Volk aus dem Sklavendienst ... zum Gottesdienst

Versklavung bedeutet Unterwerfung unter den Willen eines anderen, und Freiheit bedeutet frei von ungesunden Einschränkungen oder Zwang zu sein. (Richard Bauckham, God and the Crisis of Freedom, S. 9 - meine Übersetzung)

Wir haben es gesehen: Der Exodus ist einer der grossen Momente in der Story des Alten Testaments, der Geschichte Gottes mit seinem Volk. Und es ist ein Moment der Befreiung aus einer realen Unterdückungssituation. Kein Wunder dockte die Befreiungstheologie an diesem Exodus-Moment an und konnte Martin Luther King, gesättigt mit den Bildern des Auszugs aus Ägypten, von einer freien amerikanischen Gesellschaft träumen. Der Exodus ist ein prägender Archetypus unserer Gesellschaft bis heute. Nur dass wir ihn nur halbwegs übernommen haben.

Sag zum Pharao: Jahwe, der Gott der Hebräer, hat mich zu dir gesandt und lässt dir sagen: Lass mein Volk ziehen, damit sie mich in der Wüste verehren können. (Ex 7,16)

Der zweite Teil des Satzes ist entscheidend (das Wort damit deutet es an). Gott befreite sein Volk nicht zu einem autonomen Aggregatzustand, sondern zu einer Freiheit ihn als ihren Gott anzubeten und ihm zu dienen. Das hiess bestimmt nicht, dass Gott das Volk Israel aus einem Sklavenzustand in ein neues Sklavendasein mit einem neuen Herren, der sie unterdrückt hinein "befreit" hatte. Das wäre nur der Fall, wenn Gottes Herrschaft tatsächlich unterdrückend wäre. Das pure Gegenteil ist jedoch der Fall: Der Pharao nutze Israel aus, Gott setzte Israel frei. Jürgen Moltmann beschreibt es so:

Der Ausdruck „der Herr“ ist nichts anderes als die Zusicherung der Freiheit für das versklavte Volk. Er hat nichts mit den Herren zu tun, die sie versklaven. (Moltmann, Erfahrungen theologischen Denkens) [2]

Aus diesem Grund ist es gerade nicht als ein Gegensatz zu lesen, dass JHWH Israel aus Ägypten befreit, um ihnen dann in der Wüste die Torah, sein Gesetz zu geben. Wie wir gesehen haben setzt Gott den Exodus-Moment ganz an den Anfang der zehn Gebote: "Ich bin der Gott, der euch aus Ägpyten befreit hat!" Wir könnten es vielleicht so umschreiben: "Ihr gehörtet dem Pharao und musstet tun, was er euch befahl. Jetzt aber gehört ihr mir und ich lade euch dazu ein so zu leben, wie ich es euch sage. Meine Wege sind gut. Meine Gesetze setzen euch erst recht frei und ermöglichen euch ein Zusammenleben, dass von gegenseitiger Rücksichtnahme und ja, Liebe geprägt ist!" Anders kann es nicht sein. Die Zusammenfassung der Torah besteht gemäss Jesus darin, Gott und seinen Nächsten zu lieben. Das Gesetzt regelt diese Gottes- und Nächstenliebe, manchmal bis ins Detail hinein, wie, dass die Israeliten ein Geländer an ihren Dächern anbringen sollten (5 Mose 22,8). Der wahre Grund dafür war nicht, dass Gott (s)eine penible Seite verwirklichen will. Die Idee war, seinen Nachbarn zu schützen, damit dieser nicht vom Dach fällt. Die Torah, das Gesetz Gottes war nicht dazu da, Israel zu knechten, sondern sie zu einem befreiten Lebensstil anzuleiten, der allen Gliedern der Gesellschaft zu Gute kommen sollte.


Die Freiheit des Exodus bestand darin, dass Israel zu einem Leben unter der Herrschaft Gottes befreit wurde. Wir haben es hier mit einer konkreten, handfesten Freiheit zu tun, die sich in den gesellschaftlichen und politischen Strukturen der alttestamentlichen Theokratie verwirklichte. Das Moment des Exodus betont weniger die "innere Freiheit": Die Freiheit sich selber zu sein und zu bleiben, selbst wenn von aussen Druck aufgesetzt wird. So hätte Israel auch in Ägypten "innerlich frei" sein können, in dem Sinne, dass sie durch ihre Peiniger zwar gedemütigt wurden, in ihren Herzen aber wussten, dass sie in ihrer Beziehung zu Gott freie Menschen waren und dass niemand ihnen diese Freiheit rauben konnte. Ich sage nicht, dass es diese innere Freiheit nicht gab, nur, dass das Alte Testament sie weniger betont. Diese Tatsache sollte auch uns dazu bringen, Freiheit nicht nur als individuelle, innerliche Freiheit zu verstehen. Die Freiheit, die Gott bringt, drängt immer auch nach aussen. Sie will sich im sozialen Miteinander verwirklicht sehen.



Der Exodus hat unsere westliche Kultur tiefgreifend geprägt [3]

Man muss nicht so weit suchen, um auch in der heutigen Zeit noch Spuren des Exodus zu finden. Jedes Mal, wenn es darum geht, einer unterdrückten Stimme Gehör zu geben oder oppressive Strukturen zu reformieren und benachteiligte Gruppen zu rehabilitieren, hören wir Echos des Auszugs aus Ägypten. Als Christen tun wir gut daran, diese Impulse nicht zu schnell als anarchistisch abzutun. Es gibt tatsächliche Machtstrukturen in dieser Welt, die dazu führen, dass bestimmte Menschen und Menschengruppen unterdrückt werden. Christen haben sich immer schon für eine gerechtere Sozialordnung eingesetzt. Ihre christliche Nächstenliebe "zwang" sie dazu, sich für die Abschaffung der Sklaverei oder gegen den Menschenhandel einzusetzen. [4]


Auf der anderen Seite dürfen (sollen!) wir kritisch unterscheidend sein und diese Frage stellen: Welche Freiheit wird hier propagiert? Ist es eine Freiheit, unter Gottes Herrschaft zu kommen und unter seiner Führung zu leben, oder geht es viel eher darum, ein selbstgebasteltes Ideal von Freiheit zu verwirklichen, das letztlich nur wieder in eine neue Form von Knechtschaft führt? Viele der modernen Befreiungsbewegungen haben sich ein Exodus-ähnliches Freiheitsideal auf die Fahne geschrieben: Queere Menschen werden gesellschaftlich benachteiligt und sollen emanzipiert werden, so dass ihnen die gleichen Möglichkeiten offenstehen wie binären Menschen. So weit so gut. Aber was ist, wenn diese Befreiungsaktion auf der anderen Seite dazu führt, dass queere Ideologie es Andersdenkenden verbietet eben anders zu denken und andere gesellschaftliche Ideale zu verfolgen? Das Ganze ist nicht so einfach. Das kommunistische Freiheitsprojekt führte zu einer Unterdrückung eines vorher nie dagewesenen Ausmasses, obwohl das explizite Ziel war, die Ausbeutung des Menschen durch andere Menschen zu überwinden. Es ist manchmal tatsächlich so, wie Christopher Watkin es formuliert. Befreiungsansätze ...

... übersehen manchmal, dass die Befreiung von historischen Unterdrückungen mit der Umsetzung einer neuen Reihe sozialer und diskursiver Dogmen und Orthodoxien einhergeht, die oft mit dem religiösen Eifer einer Inquisition durchgesetzt werden, mit ebenso brutalen Ausschlüssen und Exkommunikationen wie die alten Strukturen, die man niederreißen möchte. (aus Biblical Critical Theory, S. 273, Googles Übersetzung)

Wem das wie ein Seitenhieb auf links-politischen Bewegungen vorkommt, soll beruhigt sein. Rechts-politische Ansätze verfolgen auch ihre Befreiungsprojekte, nur dass es sich dabei mehr um die Befreiung eines zu stark eingreifenden Sozialstaates handelt, der die persönliche Freiheit des einzelnen (oder die Freiheit einzelner Wirtschaftsunternehmen) beschneidet. Dabei wird übersehen, dass die Freiheit des Marktes zu neuen Unfreiheiten führt. Noch einmal Watkin:

Die Rechte erkennt nicht an, dass Einzelpersonen und Institutionen, wenn sie von Regulierung und Regierung befreit werden, der harten, brutalen Herrschaft des Marktes zum Opfer fallen. (Biblical Critical Theory, S. 273)

Ironischerweise ist das Befreiungsnarrativ in unserer Gesellschaft so einseitig präsent, dass die grosse aufklärerische Befreiungsinitiative - sich von jeglicher Tradition und Religion zu befreien - dazu geführt hat, sich gegen Religion selbst zu wenden. Unsere Religionskritik, sei sie marxistischer, psychologischer oder rationaler Natur, hat dazu geführt, den zweiten Aspekt des Exodus komplett zu vergessen: Dass Gott uns dazu befreit hat, ihm zu dienen. Und somit heben wir das ganze Ziel des Exodus aus seinen Angeln. Wir befreien uns von dem, der uns eigentlich wahrhaftig befreien würde. Es bleibt noch der erste Teil übrig - die Befreiung von ... So suchen wir nach ständig neuen möglichen Befreiungsmomenten. Das macht uns als westliche Kultur geradezu aus. Wie Watkin es beschreibt:

Der Westen braucht die Entdeckung immer neuer Unterdrückungsformen, von denen er sich befreien kann, um seine Identität als emanzipiert und emanzipierend zu bekräftigen. (S. 271) [5]

Das Problem besteht nicht nur darin, dass man den Exodus nur partiell anwendet. Man vergisst auch, dass der Exodus zwar einen wichtigen Teil, aber nicht die ganze biblische Geschichte Gottes mit seinem Volk ausmacht. In der Bibel gibt es nicht nur den Auszug aus Ägypten, es gibt auch den Abzug aus dem gelobten Land ins Exil, die prophetisch eschatologische Hoffnung auf ein wiederhergestelltes Land, usw. Wenn der Exodus zum dominanten kulturellen Narrativ wird, wird man der komplexen Situation unserer Welt nicht gerecht. Die puristische Schablone von unterdrückenden Tätern einerseits und leidenden Opfern andererseits ist nicht allein in der Lage, unsere komplexe menschliche Situation zu erklären. Ja, es gibt Opfer und es gibt Unterdrücker. Und manchmal werden die Opfer wieder zu Tätern. Beide brauchen die Erlösung und Wiederherstellung, die durch Jesus Christus kommt. Eine schwarz-weiss-Schablone aber macht uns blind für Komplexitäten wie diese:

  • Ja, die Israeli sind nicht unschuldig, was ihre rigorose Siedlungspolitik in Palästina anbelangt. Sie machen es den Palästinensern wirklich nicht einfach. Trotzdem sind sie nicht einfach ein Problem, das beseitigt werden muss. Es ist geradezu absurd, wie die Bewegung Free Palestine sich für Freiheit und soziale Gerechtigkeit einsetzt, indem sie ein ganzes Volk vertreiben (ausrotten?) will!

  • Ja, die Afroamerikaner kämpfen auch heute noch mit weissem Rassismus, zum Teil sogar massiv. Trotzdem sind nicht alle Weissen automatisch rassistisch und auch nicht alle People of Color automatisch benachteiligt. Ich weiss, dass das Thema sehr komplex ist und ich masse mir nicht an, es lösen zu können. Afroamerikaner leben mit ihrer Geschichte der Unterdrückung, ihren eigenen Erfahrungen in Ägypten. Als Christen sollten wir hier nichts abschwächen. Gleichzeitig dürfen wir der schwarz-weiss-Schablone, die momentan auf die afroamerikanische Situation angewendet wird und die Weisse automatisch zu Tätern stempelt, kritisch gegenüberstehen, weil sie zu simplizistisch ist.

  • Bestimmt gibt es die Situationen, in denen ein Sozialstaat die Freiheit seiner Bürger zu stark reguliert und sie übermässig einschränkt. Aber es gibt auch die ständige Gefahr, dass ein freies Marktsystem nur diejenigen begünstigt, die sowieso schon Kapital besitzen, während die weniger Bemittelten leer ausgehen. Die Gleichung ist nicht einfach und mit einer schwarz-weiss-Schablone zu lösen.



Zum Schluss: zu welcher Freiheit befreit Gott uns? (Teaser für einen weiteren Beitrag)

Bob Dylan hat es in seiner sogenannten 'Gospel-Phase' mit diesem Lyric schön erfasst: You gotta serve somebody - irgendwem musst du ja dienen! Stimmt das? Und was mit unserem Freiheitsideal der autonomen, selbstbestimmten Freiheit, wie Oprah Winfrey (Die Wahlfreiheit ist dein größtes Geschenk. Nutze sie weise) sie so prominent propagiert?


Es geht mir hier nicht darum Oprah zu widerlegen (ich will in einem nächsten Blog näher auf die Frage nach selbstbestimmter Freiheit eingehen). Ich würde nämlich schon sagen, dass der Exodus den Israeliten neue Möglichkeiten zur Selbstbestimmung eröffnete. Sie mussten nun vieles selber bestimmen, was vorher vorgegeben war. Es war keine leichte Freiheit, die sich ihnen da eröffnete und sie sehnten sich manchmal nostalgisch zu den Fleischtöpfen Ägyptens zurück (vgl. 2 Mose 16). Besser Sklaverei mit Stabilität als Freiheit mit Angst, sagten sie sich. Übertragen auf heute könnte man vielleicht sagen:

Gibt mir mir ein Haus, eine Familie und vier Wochen Urlaub im Jahr, und ich werde auch mit dem fertig, was halt sonst noch dazukommt. (Biblical Critical Theory, S. 264)

Das Mindeste, was uns diese Episode lehren kann, ist, dass die Freiheit, zu der Gott uns befreit nicht immer leicht von der Hand geht. Gerade weil wir lernen dürfen und sollen, dass göttliche Freiheit wirklich gut und wahrhaft befreiend ist. Aber oftmals misstrauen wir der göttlichen Einladung. Wir wählen unsere eigenen Wege, aus all den Optionen, die uns zur Verfügung stehen. Dabei sind wir nicht so frei, wir wir manchmal denken. Es sind manchmal diese gefühlt selbstbestimmten Entscheidungen, die uns in eine neue Gefangenschaft führen und uns in der Folge bestimmen und beherrschen. Die wahre Freiheit aber liegt darin, Gott zu dienen und seinen Wegen zu folgen.

Der Exodus war befreiend ... weil es keine Befreiung Israels von irgendeiner Herrschaft war, sondern eine Befreiung von der Unterdrückung durch Pharao zum Dienst für JHWH. (Richard Bauckham, God and the Crisis of Freedom, 202).

Gott befreit uns zu sich, zum (Sklaven)dienst in seinem Haus, zum wahren Gottesdienst, der uns wirklich frei macht. Nur auf diesem Hintergrund macht es Sinn, was Augustinus einst sagte. Nämlich, das der Dienst Gottes (der Gottesdienst) die vollkommene Freiheit darstellt! [6]



[1] Vertreter einer liberalen Wirtschaftsordnung mögen hier die Nase rümpfen, da das theokratische System ja bedingte, dass der 'freie Markt' durch Gottes Gesetz stark geregelt war. Wir können das Problem hier nicht lösen und nur darauf verweisen, dass die Situation damals speziell war. Wir leben heute in keiner Theokratie, die direkt dem Gesetz Gottes untersteht, sondern als "freie Bürger" in einer mehr oder weniger "freien" Demokratie, die uns Möglichkeiten bietet, mit unserem Potenzial zu arbeiten und unser Leben selbstbestimmt zu gestalten. Als Christen stehen wir dennoch vor der Aufgabe, uns innerhalb dieses Systems für die Armen, die Witwen und Waisen einzusetzen.


[2] Zitiert in Bauckham, S. 9-10.


[3] Dazu kann man ganze Bücher füllen. Einen guten Anfang bietet John Coffey, Exodus and Liberation: Deliverance Politics from John Calvin to Martin Luther King Jr..


[4] Passend nennt sich eine christliche Organisation, die gegen den Menschenhandel kämpft auch Exodus Cry.


[5] Natürlich gelingt es unserer säkularen Gesellschaft trotzdem nicht, sich ganz von der christlichen Religion zu befreien, an der sie sich abarbeitet. Denn diese spukt weiterhin in unseren Gassen und Strassen herum, manchmal ohne, dass wir es bemerken. Siehe dazu Charles Taylor's Werk A Secular Age und meinen Blogbeitrag dazu. Eine sehr gute Adresse, um dies weiterzuverfolgen, ist Tom Holland's Buch Dominion.


 [6] Augustinus entfaltet sein Verständnis von wahrer Freiheit als Hingabe zu Gott u. a. in seinem Werk De Civitate Dei.

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