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  • matt studer

Sexualethik und Bibel: ein Blick hinter die hermeneutischen Kulissen

Aktualisiert: 29. Juni 2023


Die Ethik ist in Wahrheit die leichteste aller Wissenschaften.

(Arthur Schopenhauer)



Das Thema Sexualität in all seinen Schattierungen ist zu einem grossen Gebiet auf der evangelikalen Landkarte geworden (natürlich in Anspielung auf Faix' und Dietz' Podcast Karte und Gebiet). Manche kriegen nicht genug von der Diskussion. Anderen hängt sie bereits zum Hals heraus. Denn es gäbe auch andere wichtige Themen. Führen müssen und dürfen wir sie. Ich möchte hier erneut (m)einen Betrag dazu leisten. Weil ich neben Sex auch Hermeneutik (wie gehen wir an die Bibel heran und wie gehen wir mit ihr um?) so gerne mag, soll dieser Artikel vor allem all den Fragen rund um unser Handling der Bibel nachgehen, wie wir mit der Bibel hantieren, wenn es um die heissen Dinger geht.



Zwei oder drei grundlegend verschiedene Haltungen und Herangehensweisen

Wie äussert sich die Bibel zum Thema? Grundsätzlich einheitlich und klar? Das wäre die eine Möglichkeit. Das biblische Teaching zu den wichtigen sexualethischen Fragen ist durchs Band eindeutig und kongruent: Gott schuf den Menschen als Frau und Mann; Sexualität findet im Rahmen eines lebenslangen Bundes, der Ehe statt. Ergo wären alle anderen Formen von Sexualität ausserhalb des göttlichen Designs angesiedelt (darf man noch Sünde dazu sagen?). Wem diese Option nicht passt, der wählt die andere: Die Bibel bildet keine eindeutige oder einheitliche Meinung zum Thema ab. Sie widerspricht sich sogar manchmal selber. Auf jeden Fall ist sie in Bewegung, hin zu einer 'besseren Ethik'. Demnach wären wir gefragt, an den entscheidenden Punkten weiterzudenken, anders zu gewichten und neu zu beurteilen. Man könnte diesen Kontrast auch so formulieren: Die einen finden in der Bibel das komplette Bild vor, alles was sie brauchen, um selbst im Bereich der menschlichen Sexualität ein klare und normative Vorstellung zu gewinnen. Die anderen betonen stärker, dass die Welt sich so stark verändert habe, dass die Bibel allein (oder vielleicht auch einfach die traditionelle Interpretation der Bibel) nicht länger ausreiche, unserer Zeit gerecht zu werden. Denn ein sich verändernder Kontext bedingt, dass man Neues ausprobiert, neue Wege geht. Eine weitere Spielart wäre demnach, das ethische Teaching der Bibel, das ursprünglich klar war so wie es dasteht, nicht länger als relevant zu betrachten, weil es nicht mehr passt. Wir fassen zusammen:

  • Die Bibel ist einheitlich, eindeutig und klar und auch für den heutigen Kontext im Grossen und Ganzen explizit oder implizit anwendbar. [1]

  • Die Bibel ist zweideutig, unklar und enthält widersprüchliche Aussagen. Gewisse Aspekte gelten für heute, andere müssen wir ablehnen.

  • Die Bibel ist einheitlich, eindeutig und klar, aber für die heutige Situation nicht brauchbar.

Gäbe es nicht auch noch eine vierte Möglichkeit? Nämlich, dass die Bibel eindeutig und klar aussagt, dass gelebte Homosexualität (und alle weiteren Spielformen von heute) in festen Liebesbeziehungen nicht verurteilt werden, sondern gerade gesegnet werden können? In anderen Worten, dass die Bibel nicht von solchen Liebesbeziehungen rede, sondern von missbräuchlichen Formen von Homosexualität und dass sie diese verurteilt? Ja, dass man damals solche auf gegenseitigem Einverständnis ruhende Beziehungen gar noch nicht kannte? Man beachte, dass hier wieder die Kontextfrage mitspielt: Die heutige Situation ist so anders, dass ein direkter Vergleich zwischen Bibeltext und der heutigen Situation einfach schwierig ist.


Diese Argumentationslinie lässt sich angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes nicht mehr aufrechterhalten. Dazu bräuchte es einen weiteren Artikel. Für hier soll das Votum von William Loader, einem eminenten (nota bene liberalen) Experten auf diesem Gebiet genügen, der zum Schluss kommt, dass es zur Zeit des Neuen Testaments sehr wohl homosexuelle Beziehungen gegeben habe, die auf gegenseitigem Einverständnis beruhten und dass der Apostel Paulus auch diese in seiner Kritik eingeschlossen hat:

Nichts deutet darauf hin, dass Paulus auch nur eine Form gleichgeschlechtlichen Verkehrs als akzeptabel ansieht. (Making Sense of Sex, Seite 137)

Wie geht dieser Artikel nun weiter? Als Vertreter der Position 'die Bibel äussert sich klar 'negativ' gegenüber ausgelebter Homosexualität und Co.' interessieren mich die anderen Vorschläge vor allem hinsichtlich ihrer hermeneutischen Weichenstellungen. Denn, die Weichen einmal gestellt, fährt der Zug in diese und nicht mehr in jene Richtung. Es geht mir im folgenden nicht primär darum, meine Position (biblisch) zu begründen, oder die anderen (biblisch) zu kontern, sondern mich ganz auf die Gleise zu konzentrieren. Warum landen Christen heutzutage an so verschiedenen Bahnhöfen? Selbstverständlich wird meine Meinung (unapologetisch) durchdrücken, wie es anders gar nicht ginge.



Beispiel 1: Die Bibel ist inkonsistent und widerspricht sich selber

Ein ganz aktuelles Beispiel für Position 'zweideutig und widersprüchlich' ist ein kürzlich erschienener Artikel des Alttestamentlers Walter Brueggemann. Er kommt zum Schluss, dass die verschiedenen biblischen Texte beider Testamente konträre Sichten zum Thema abildeten.

Es ist unmöglich, das Mandat der Exklusion in Leviticus 18,22 und 20,13 oder Deuteronomium 23,1 mit der willkommenen Grundhaltung aus Jesaja 56, Matthäus 11,28-30, Galater 3,28 oder Apostelgeschichte 10 miteinander in Verbindung zu bringen.

Es wird schon bei einzelnen biblischen Autoren schwierig. Paulus, mit dem Inklusionstext aus Galater 3,28 war ja gleichzeitiger Autor des ersten Korintherbrief mit dem doch etwas anders anklingenden 'exklusiven' Satz aus 6,9: 'Keiner, der ein unmoralisches Leben führt, Götzen anbetet, die Ehe bricht, homosexuelle Beziehungen eingeht, stiehlt, geldgierig ist, trinkt, Verleumdungen verbreitet oder andere beraubt, wird an Gottes Reich teilhaben.' [2] Und so kommt Douglas Campbell zu diesem für manche echt befreienden (Position zwei) und für andere doch recht schockierenden Schluss (Position eins):

Wenn Paulus an diesem Punkt ... inkonsistent war und es versäumte, seine Soteriologie mit ethischer Konsequenz weiterzuverfolgen (und wer von uns kann hier den ersten Stein werfen?!), dann schlage ich vor, dass wir, nachdem wir dies erkannt haben, diese Widersprüche einfach außer Kraft setzen ... Das soteriologische Zentrum des Paulus und seine konsistenten ethischen Folgerungen sollten seine inkonsistenten ethischen Ermahnungen übertrumpfen; seine Position zur Erlösung sollte seine inkonsistenten Aussagen über die Schöpfung außer Kraft setzen. (The Quest For Paul’s Gospel, Seite 127).

Wir müssen also damit rechnen, dass der Apostel Paulus manchmal inkonsistent war und (sorry!) Bullshit zusammengedichtet hat. Scheinbar ist für Campbell aber klar, welches die zentralen Überzeugungen des Paulus sind, mit denen sich seine unpassenden Aussagen revidieren (überschreiben) lassen. Heute wissen wir es besser!


Wieso beginnen 'klassisch Evangelikale' an der Stelle auf ihrem Stuhl herumzurutschen? Weil die Bibel für sie (gerade auch bei diesem Thema) eine grosse Einheit bildet, selbst wenn diese Einheit aus vielen verschiedenen und manchmal sich reibenden Einzelteilen besteht. [3] Darum versuchen sie zuerst einmal, die Bibel mit einem Vorschussvertrauen als Einheit zu lesen, bevor sie einzelne Bibelstellen gegeneinander in die Schlacht ziehen lassen. Man könnte ihnen also vorwerfen, dass das 'Paradigma Einheit' ihr Resultat bereits vorbestimmt. Weil die Bibel eine Einheit ist, darf sie sich nicht widersprechen (und darum muss man diverse Bibelstellen krampfhaft in ein harmonisches Gleichgewicht bringen, wobei der Akkord dann doch nur schief tönen kann). Ich glaube nicht, dass sich der Vorwurf halten lässt. Vielmehr werden gerade hier die besagten Bibelstellen sorgfältig untersucht und in einen gesamtbiblischen Zusammenhang gestellt. Die schön klingende Harmonie ergibt sich unbedingt aus der Beschäftigung mit der ganzen Bibel, inklusive all der expliziten und impliziten Stellen über Sexualität. Ich frage mich, ob nicht die kritische Grundhaltung 'die Bibel kann keine Einheit sein' dazu führt, dass man gar nicht mehr die ganze Bibel befragen will und man einzelne Stellen a priori ausschliesst?


Es ist offensichtlich, dass nicht alle von uns die Bibel als grosse Einheit verstehen können. Für manche ist sie fragmentierter, vielfältiger, bunter, widersprüchlicher. Manuel Schmid verdeutlicht diese Haltung:

Die Bibel ist halt einfach kein Bauplan - und auch keine «Gebrauchsanweisung» fürs Leben, wie man früher in evangelikalen Kreisen so gerne sagte. Ein Bauplan ist viel zu statisch und in sich geschlossen, um irgendwie sachgemäss auf eine vielschichtige und oft auch inkonsistente Sammlung von Büchern angewandt zu werden. Die Bibel erzählt eine Vielzahl von Geschichten, in denen wir uns wiederfinden können - die uns aber auch abstossen, irritieren, verstören und ratlos zurücklassen können. (kopiert aus einem Facebook-Kommentar)

Ich finde auch, dass Bauplan nicht unbedingt die beste Beschreibung ist. Mir gefällt der Begriff 'Skript', wie Kevin Vanhoozer ihn verwendet. Kein Bauplan, der alles bis ins kleinste Detail beschreibt, aber ein zuverlässiges und autoritatives Skript, das uns zu einem guten und gottgefälligen Leben anleitet. Der Knackpunkt bei Schmid liegt in der Betonung der Vielfalt ohne Einheit - eine Vielzahl von Geschichten, die letztlich inkonsistent sind.


Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen. Wenn die Bibel in den Sex-Themen tatsächlich 'inkonsistent' wäre, müssten wir uns von einer klaren biblischen Position verabschieden. Folglich dürften sich dann auch die Progressiven die Bibel nicht zu eigen machen und könnten nicht länger 'mit der Bibel' begründen, dass Gott Homosexualität gutheisst. Eins

ist klar, wenn die Bibel nichts Eindeutiges mehr zum Thema zu sagen hat, verliert sie ihre Autorität. Es bleibt dann nämlich am jeweiligen Theologen oder theologischen Milieu zu bestimmen, welche Selektion von Bibelversen oder welche 'biblische Linie' gerade passt. Brueggemann ist ein gutes Beispiel. Führ ihn sind es solche Stellen wie Galater 3,28, die Paulus' (und Gottes) wahre Absicht vermitteln wollen, wogegen Stellen wie 1. Korinther 6,9 und Römer Kap. 1 kritisiert werden dürfen. Ian Paul, in einer Antwort an Brueggemann, fasst die Situation wie folgt zusammen:

Die Bekräftigung gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen, die Brueggemann als Teil seines „Welcome“ aussprechen möchte, hängt tatsächlich von der Berufung auf eine höhere Autorität ab – das Urteil des modernen Lesers im Vergleich zu dem, was der Text der Heiligen Schrift sagt.


Beispiel 2: Christliche Ethik entwickelt sich fort und passt sich neuen Kontexten an

Was, wenn die Bibel ihrerseits eine genug klare Sexualethik präsentierte, diese aber für heute nicht länger anwendbar ist? Weil wir heute in einer anderen Zeit leben als Jesus und seine Apostel damals? Weil sich die Dinge verändert haben und wir bitte nicht Äpfel mit Birnen vergleichen sollen? Das Argument tönt zunächst ganz plausibel. Schon die

Apostel mussten sich doch an neue Situationen anpassen und das damals gängige und etablierte Bibelverständnis revidieren. Ein beliebtes Beispiel ist Petrus bei Kornelius (Apg 10). Gott forderte Petrus heraus, als er ihm eine Vision von unreinen Tieren servierte, die Petrus nun (visionär und gegen seinen jüdischen Strich) schlachten und essen sollte. So etwas hatte es bis dato nicht gegeben. Diese Tiere waren doch von Gott selbst als unrein erklärt worden! Petrus würde also gegen das mosaische Gesetz verstossen, wenn er auf Gott hörte. Stand Petrus hier nicht vor dem Dilemma, entweder das Altbewährte (und klar Offenbarte) zu bewahren, oder sich in hermeneutisches Neuland zu wagen? Wie Luke Timothy Johnson meint, besassen die Apostel damals den Mut, das was sie erlebten für sich sprechen zu lassen und daraus schliessend neue interpretatorische Wege zu gehen:

In diesem Interpretationskampf weigerten sich mutige Zeugen wie Paulus, ihre Erfahrung von Gott in Christus in den Rahmen ihres bisherigen Verständnisses der Heiligen Schrift einzuordnen. Stattdessen folgten sie dem Zeugnis der Erfahrung Gottes in Christus unter ihnen und begannen im Licht dieser Erfahrung, ihre gesamte Heilige Schrift neu zu lesen und als Prophezeiung umzudeuten, die Christus auf eine Weise offenbarte, die sie vorher nicht wahrgenommen hatten – und vorher auch nicht wahrnehmen konnten. [4]

Im Hinblick auf unsere sexualethischen Themen sollten wir uns vielleicht hinterfragen, ob uns die existenzielle Erfahrung all der Menschen, die heute sexuell anders empfinden nicht aufzeigt, dass Gott mit solchen Menschen etwas anderes vorhat? Wenn Gott doch in diesen Menschen 'wirkt', kann es sein, dass er ihnen ihre sexuelle Identität abspricht? Rückendeckung für eine solche Herangehensweise findet Johnson in den narrativen Berichten des Neuen Testaments (wie der Story von Petrus und Kornelius). Denn diese Stories zeigten uns einen Gott, der unter den Menschen wirke und der selbst 'gegen sein geschriebenes Wort' Neues aus seinem Sack hervorzaubern könne, wenn die Zeit reif ist. Was zählt sind nicht die verschriftlichten Gebote oder apostolischen Anweisungen, die sowieso nur kulturell bedingt zu verstehen sind. Was zählt ist das Wirken des Geistes im Leben der Menschen. Noch einmal Johnson:

Was ich am wichtigsten finde, ist nicht die Autorität, die in bestimmten Geboten zu finden ist, die fehlbar, widersprüchlich und oft kulturell bedingt sind, sondern vielmehr die Art und Weise, wie die Heilige Schrift in ihren Lesern den Geist Christi erweckt und sie dazu ermächtigt, geschriebene Texte im Lichte dessen neu zu interpretieren, was sie erlebt haben.

Zusammengefasst könnte man sagen: 'Neue Kontexte und neue Erfahrungen bedingen ein neues Verständnis der göttlichen Wahrheit, selbst wenn diese 'Wahrheit' gegen den Strich gut etablierter, biblischer Grundannahmen geht. Der Heilige Geist muss es uns halt zeigen, denn Gottes Wahrheit entfaltet sich progressiv. Johnson fasst es gut zusammen:

Wenn es riskant ist, sich auf den Beweis dafür zu verlassen, dass Gott in veränderten Leben wirkt, selbst wenn dies die klaren Aussagen der Heiligen Schrift in Frage stellt, ist es ein weitaus größeres Risiko, zuzulassen, dass die Worte der Heiligen Schrift uns für die Gegenwart und Macht des lebendigen Gottes blind machen.

Fazit: Die Bibel mag zwar klar sein, indem was sie damals sagen wollte. Wichtiger jedoch ist, was wir heute erfahren und wie wir es mit Hilfe des Heiligen Geistes deuten können. Oder noch kürzer: Der Geist übertrumpft das Wort.


Auch hier beginnen 'klassisch-Evangelikale' nervös zu werden (geschweige denn Luther und Zwingli, die sich im Grab umdrehen würden, wenn sie so an ihren hermeneutischen Kampf mit den Spiritualisten erinnert würden). Zuerst einmal ein paar Bemerkungen zum 'Kontextproblem'. Evangelikale sind sich wohl bewusst, dass die Bibel ihrerseits in einem historischen Kontext geschrieben wurde, der sich von der heutigen Welt zum Teil stark unterscheidet. Trotzdem gehen sie davon aus, dass Gott so in der Bibel geredet hat, dass seine Rede alle Menschen aller Zeiten adressiert. [5] Es gibt in der evangelikalen Welt im Moment zwei gegenläufige Tendenzen, mit der Frage des Kontextes umzugehen.

  • Klassisch-evangelikal: Wir lesen die Bibel in ihrem historischen Kontext, gehen aber trotzdem davon aus, dass ihre Botschaft universale Gültigkeit hat und explizit oder implizit auch heute angewendet werden kann. Nicht alles lässt sich immer einfach übertragen, doch zum Thema Sexualität äussert sich die Bibel eindeutig. Vor allem entfaltet sie ein Bild des Menschen und seiner Sexualität, das sich von Schöpfung bis Neuschöpfung spannt. Die Apostel argumentieren nicht kulturell, sondern schöpfungstheologisch, wenn es um Sexualität geht (so auch Jesus in Mt. 19).

  • Post-evangelikal: Die Welt hat sich so stark gewandelt, dass etwas, das zur Zeit der Apostel noch Gültigkeit und Bewandtnis gehabt haben mochte, heute nicht länger relevant sein kann. Es kann darum gar nicht um eine 'Übertragung' von damals aufs Heute gehen (und wenn, dann nur sehr indirekt und allgemein). Viel eher geht es darum, auf den heutigen Kontext zu hören und die 'neue Wirklichkeit' der Menschen im 21. Jahrhundert zu berücksichtigen, um so (meinetwegen mit Hilfe einiger Stellen der Bibel) eine Ethik zu entwickeln.

Thorsten Dietz hat es so formuliert: 'Nur eine hörende Ethik kann sich ernsthaft darauf berufen, dem moralischen Grundimpuls der biblischen Texte treu zu bleiben.' Das stimmt. Die Frage ist, auf wen oder was man hört: auf die Autoren der Bibel, oder auf die heutigen Erfahrungen der Menschen. Und wer die klassisch-evangelikale Position einnimmt, sollte unter Umständen nicht unbedingt als 'Kontext-unsensibel' bezeichnet werden. Auch 'wir' hören auf die Situation und lassen sie zu uns sprechen. Wie könnte man die Bibel sonst anwenden, wenn man sie nicht an der heutigen Situation andockt? Es gibt keine luftleere Anwendung der Schrift. Nur dass wir die Situation eben durch die normierende Linse der Schrift betrachten und nicht umgekehrt.


Zurück zu Luther und Zwingli. Diese Kollegen hatten schwere Not, weil sie - nachdem sie die Bibel dem katholischen Klerus entrissen und der Allgemeinheit zugänglich gemacht - nun mit dem ganz anderen Problem zu kämpfen hatten, dass nun plötzlich Leute auf den Plan traten, die den Heiligen Geist für sich beanspruchten und mit Hilfe 'dieses Geistes' ganz neue Interpretationen der Schrift und zum Teil sogar gegen den Buchstaben der Schrift vorlegten. Es ist durchaus interessant, dass sich diese Dynamik bis heute gehalten hat (vielleicht vor allem in evangelikal-charismatischen Kreisen). Oder wer hat nicht schon die Aussage vernommen, dass der Buchstabe töte und der Geist lebendig mache? Im Sinne von, 'nicht was da geschrieben steht ist letztlich relevant, sondern was der Heilige Geist MIR offenbart'. Die Reformatoren wandten dagegen ein, dass Schriftwort und Geist nicht voneinander gelöst werden können. Ja, der Geist adressiert uns gerade durch das geschriebene Wort. Bei progressiven ethischen Entwürfen weht der Geist aber weit über die Schrift hinaus bis in die heutige Zeit hinein. Es gilt dann, dieses Wirken zu erkennen und ihm 'über die Bibel' hinaus zu folgen. Luke Timothy Johnson fasst es zusammen:

Und wenn der Buchstabe der Heiligen Schrift keinen Raum für das Wirken des lebendigen Gottes bei der Transformation des menschlichen Lebens finden kann, dann müssen Vertrauen und Gehorsam dem lebendigen Gott und nicht den Worten der Heiligen Schrift entgegengebracht werden.

Die Ehrlichkeit mit der Johnson seine hermeneutischen Grundsätze offenlegt, ist mir bis jetzt selten so begegnet. Aber ich denke, dass er den Nagel auf den Kopf trifft:

Ich halte es für wichtig, klar zum Ausdruck zu bringen, dass wir tatsächlich die klaren Gebote der Heiligen Schrift ablehnen und uns stattdessen auf eine andere Autorität berufen, wenn wir erklären, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften heilig und gut sein können. Und was genau ist diese Autorität? Wir berufen uns ausdrücklich auf das Gewicht unserer eigenen Erfahrung und der Erfahrung, die Tausende andere miterlebt haben ... Damit lehnen wir ausdrücklich auch die Prämissen der biblischen Aussagen ab, die Homosexualität verurteilen – nämlich, dass es sich um ein frei gewähltes Laster, ein Symptom menschlicher Korruption und Ungehorsam gegenüber der von Gott geschaffenen Ordnung handelt.


Weichen gestellt, Zug fährt los

Traditionellerweise verstehen wir die Bibel als Gotteswort. Ja, von Menschen geschrieben und dennoch das Wort Gottes und darum für uns normativ und autoritativ. Für uns ist die Bibel grundsätzlich klar in dem, was sie sagen will - wie könnte sie sonst autoritativ sein, wenn wir ihre Aussagen nicht verstehen würden? - auch wenn nicht alles gleichermaßen glasklar ist und 'dunkle durch helle Stellen' ausgelegt werden müssen. Zudem verstehen wir den biblischen Kanon abgeschlossen und daher ausreichend, um unsere Gedanken und unser ganzes Leben dem Sinne Christi nach zu ordnen und zu formen. Wir brauchen keine neuen Offenbarungen Gottes fürs 21. Jahrhundert, sondern 'nur' immer wieder die Erleuchtung des Heiligen Geistes, um seine einst offenbarte Wahrheit für uns heute zu verstehen und sie fruchtbar zu machen.


Mit dieser Weichenstellung fährt der sexualethische Zug munter auf der seit zweitausend Jahren befahrenen Stecke weiter. Dass sich heute viele Christen - mehr und mehr auch im evangelikalen Kuchen - daran machen, die Weichen umzulegen um in eine ganz neue Richtung und in ein neues Gebiet, das bis anhin nicht auf der Landkarte zu finden war, fahren zu können, sagt am Ende mehr über uns und unsere Zeit aus, als über die Bibel, die eine klare Botschaft äussert.



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[1] Ich meine, dass die Bibel sich organisch entfaltet und dass neuere Beiträge die älteren Beiträge zwar erweitern oder ergänzen, nicht aber sie revidieren können. Die Bibel zeigt selber auf, wie wir diese Entwicklung verstehen und einordnen sollen.


[2] In Bezug auf 1. Korinther 6,9 wird gerne angeführt, dass der Apostel Paulus hier von Knabenschändern spreche (solchen Männern, die Lustknaben bei der Tempelprostitution ausgenutzt haben), nicht von homosexuellen Akten, die auf Gegenseitigkeit beruhen.


[3] Hier müsste erstmals von der Bibel selbst her gezeigt werden, dass sie sich als grosse Einheit versteht. Wer sich tiefgründig dafür interessiert, dem empfehle ich John Frame's The Doctrine of the Word of God.


[4] Das 'hermeneutische Problem', das Johnson hier anspricht, ist nicht, dass die Apostel aufgrund ihrer Erlebnisse das Alte Testament revidieren mussten, sondern dass sie es erst richtig interpretieren lernen durften.


[5] Das Thema 'Kontext' ist komplex und ich möchte es - so Gott will - in einem späteren Artikel eingehender behandeln.


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