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  • matt studer

Eltern sein – warum wir mit Scham zurechtweisen

Aktualisiert: 22. Okt. 2022


Wir Eltern lieben unsere Kinder zutiefst. Wir wollen das Beste für sie. Wir hoffen, dass sie sich zu guten, reifen und erfolgreichen Menschen entwickeln. Und dann gibt es wieder solche Momente, in denen wir realisieren und bereuen, dass wir trotz unserer guten Vorsätze und Pläne, trotz unserer tiefen Liebe zu ihnen hartherzig und selbstgerecht reagiert haben. Dass wir ihnen wieder gepredigt haben, dass sie eigentlich jetzt schon besser und reifer und lieber sein müssten, als sie sich tatsächlich verhalten haben.


Die Mutter von Tomi schimpft verzweifelt: «Jetzt hör doch endlich mal auf, deinen Bruder zu schubsen!» Eveline’s Vater sagt mit einem ungeduldigen und genervten Unterton: «Du weisst doch eigentlich genau wie das geht!» Karli erntet einen abweisenden Blick seiner Eltern, nachdem er seinen Sirupbecher schon wieder umgestossen hat. Mike's Mutter reklamiert: "Warum hast du das jetzt schon wieder gemacht!" Stell dir vor allem auch die non-verbalen Momente vor: Tonfall, Gestik und Mimik und Körperhaltung sind absolut entscheidende Indizien dabei.


Wieso reagieren Eltern so, abgesehen von den schlechten Nerven der schlaflosen Nächte wegen, überstrapazierter Geduld und sowieso konstanter Überforderung? Gibt es einen tieferen Grund dafür, dass wir unsere Kinder in solchen Momenten beschämen und eigentlich ablehnen? Und seien wir ehrlich, das ist es doch was es ist, auch wenn wir Ablehnung und Scham nur auf subtile Art und Weise und wahrscheinlich unbewusst vermitteln. Ein Blick oder eine Geste, ein Schnaufer, Seufzer oder ein kleiner Satz der unsere Kinder daran erinnert, dass wir mit ihnen unzufrieden sind. Beschämen bedeutet, dem Kind zu kommunizieren, dass es sich in unseren Augen durch sein Fehlverhalten disqualifiziert hat. Wir geben dem Kind zu verstehen, dass es doch so und so sein müsste, damit es unseren Erwartungen entspricht. Implizit schwingt hier Annahme oder Ablehnung mit. Wir nehmen dich an, wenn du’s richtig macht und lehnen dich ab, wenn du’s verbockst. Dabei gibt es einen feinen, aber für das Kind gravierenden Unterschied zwischen Benennen eines Fehlverhaltens und Beschämen, zwischen «das war falsch» und «du bist falsch».


Was wollen wir eigentlich mit Scham erreichen? Zu welchem Zweck nutzen wir Scham als Mittel? Wir wollen das Verhalten unserer Kinder kontrollieren, manipulieren und in die von uns gewünschte Richtung steuern. Wenn es mit normalem Reden oder Zeigen nicht funktioniert, probieren wir es mit subtiler Beschämung. «Würdest du doch … wenn du nur … sieh, die anderen machen das doch auch so … jetzt bist schon sieben, du müsstest doch endlich!» Und immer schwingt mit: «Du bist nicht genug … du bist zu kurz … du bist nicht ok!» Wir wollen ja gute Eltern sein und setzen uns dafür ein, dass unsere Kinder recht herauskommen. Dieses ‘recht-Herauskommen’ hat mit unseren Vorstellungen vom guten Leben, unserem Wertesystem oder (moralischen) Standards zu tun, die sich am einfachsten an einem gewissen Verhalten festmachen lassen. Bruder schubsen ist falsch, dem Bruder den Vortritt lassen wäre erstrebenswert. Wenn der ältere Bruder aber nach dem zig-tausendsten Mal immer noch schubst, dann fällt er unter den gesetzten Standard und wir lassen ihn das auch spüren, damit er sich gefälligst ändert. Wir erhoffen uns also, dass wir mittels Beschämen das Verhalten unserer Kinder endgültig verändern können. Oder, wir machen einfach unserem Frust und unserer Unzufriedenheit Luft und vermitteln dem Kind dadurch, dass wir eben wütend auf es und unzufrieden mit ihm sind. Dabei ist es ein gewaltiger Unterschied, ob ich mich zum Kind hinknie, ihm fest in die Augen sehe und liebevoll aber klar vermittle, dass es etwas falsch gemacht hat, oder ob ich es von oben herab ärgerlich anfahre und korrigiere und die Scham-Sätze auspacke. Der Unterschied ist meine Herzenshaltung.


Wenn ich mich beim Beschämen meiner Kinder beobachte, fallen mir zwei Dinge auf. Erstens meine Selbstgerechtigkeit und zweitens meine Angst vor der Beurteilung anderer (oder ihrer Beurteilung meiner Kinder). Ich habe gewisse Standards, wie ‘zuvorkommend Sein’ oder ‘ehrlich Sein’ (sowie zig andere ‘Seins-Zustände’) und möchte, dass meine Kinder sich auch dahin entwickeln. Das Perfide ist, dass ich meinen selbst-gesetzten Maßstäben zum Teil selber nicht gerecht werde. Gerade meinen nächsten Menschen gegenüber kann ich, wenn ich wütend bin, sehr direkt und dominant sein (von wegen zuvorkommend). Und wenn ich gut dastehen möchte, kommt es schon mal vor, dass ich etwas übertreibe (von wegen ehrlich). Ich hätte also Grund genug, mich selber zu beschämen (was ich ja manchmal auch tue!). Und jetzt erwarte ich von meinem Kind etwas, das mir nicht einmal selber gelingt! Vielleicht fast noch schlimmer, ich beschäme mein Kind vor den Augen anderer, damit ich selber besser dastehe und damit die anderen ja mitbekommen, dass ich gute Standards habe und es mir missfällt, wenn mein Kind sich nicht dementsprechend verhält. Diese zwei Maßstäbe, meine eigenen und die anderer Menschen bestimmen also meine Haltung und mein Verhalten gegenüber meinen Kindern. Dahin will ich sie bewegen, wenn nötig mit dem entsprechenden Druckmittel. Und wenn ich das Gefühl habe, dass dies nicht gelingt, bin ich einfach frustriert und wütend und lasse sie das auch spüren.


Was löst Beschämung bei unseren Kindern aus? Scham löst zunächst einmal Ablehnung aus: ich empfinde dich als falsch, zu wenig so und so, zu langsam, zu schnell, zu tollpatschig oder stur, zu egoistisch oder zu verträumt. Anders gesagt, wenn du mehr so und so wärst und mehr dies und das machen würdest, dann wärst du ok, angenommen und geliebt. Wir sprechen diese Sätze nicht aus, aber durch unser Beschämen vermitteln wir trotzdem diese Subbotschaft. Manchmal betrifft es die Persönlichkeit des Kindes und hat also eigentlich gar nichts mit richtig oder falsch zu tun (wie wenn ein Kind wirklich tollpatschig ist und darum viele Becher umschmeisst). Manchmal hat es tatsächlich mit einem Fehlverhalten zu tun, wenn es beispielsweise immer lügt oder oft frech ist. Wenn sich das Kind abgelehnt fühlt, beginnt es sich und sein Verhalten zu verstecken, sich herauszureden, zu rechtfertigen, zu vertuschen und vielleicht (oder wahrscheinlich) sogar sich selbst abzulehnen. Wir beobachten diese ur-menschlichen Reaktionen schon bei Adam und Eva nach ihrem verbotenen Dinner. Wir und unsere Kinder sind und verhalten uns im Grunde genommen nicht anders als unsere ersten Eltern.


Das fundamentale Problem bei der ganzen Sache ist, dass Beschämung zwar meistens Resultate erzielt, aber Herzen nicht wirklich verändert. Aber was bringt es, wenn unsere Kinder ‘kooperieren’, sich jedoch von uns abgelehnt fühlen? Was nützt es, wenn wir das Verhalten unserer Kinder irgendwie äusserlich hinbiegen, jedoch die Beziehung mit ihnen preisgeben (zumindest in diesen Momenten)? Viel tragischer, wenn wir so die Möglichkeit verpassen, dass sie ihre Fehler einsehen und bereuen, dass sie bereit zur Umkehr werden, dass wir in ein ehrliches Gespräch über Sünde und Evangelium einsteigen könnten?


Ich möchte drei grundlegende Wahrheiten aufzeigen, die uns helfen, von einer Scham-basierten zu einer Gnaden-basierten Erziehung zu gelangen. Erstens, unsere Kinder sind Sünder wie wir und deshalb wollen sie manchmal nicht kooperieren, aus tiefstem Herzen. Kinder sind keine Tiere, die man mit der richtigen Dressurmethode und dem nötigen Druck zum richtigen Verhalten erzieht. Kinder sind motivationsgesteuerte Wesen, die in ihrem Herzen wünschen, begehren, verlangen, wollen und dahin arbeiten zu bekommen, was sie wollen. Wir Eltern verfügen eigentlich über keine Macht über die Herzen unserer Kinder. Wir können die Motivation unseres Kindes nicht mit Biegen und Brechen verändern. Wir können und sollen Grenzen aufzeigen, disziplinieren, über Konsequenzen reden, die richtigen Wege vorausgehen, vormachen und motivieren. Aber uns fehlt die Möglichkeit, ihre Herzen zu transformieren. Sie müssen selbst wollen – und letztlich ist es Gott, der das Wollen und Vollbringen schenkt! Dieser erste Punkt führt zu meiner zweiten Beobachtung: Veränderung ist ein andauernder Prozess. Wie oft haben wir Erwachsene etwas falsch gemacht, bis wir es eingesehen haben? Oder, wie oft fallen wir heute noch manchmal in alte Verhaltensmuster zurück? Veränderung heißt, dass Gott mit uns am Werk ist – und Gott hat Zeit. Er nimmt uns an der Hand, hilft uns auf wenn wir fallen und zeigt uns den Weg vorwärts. Genauso sollten wir unsere Kinder an der Hand nehmen und uns vergegenwärtigen, dass Veränderung auch für sie ein Prozess ist. Dieser Prozess geschieht nicht von heute auf morgen und wird schon gar nicht durch unsere ungeduldigen Beschämungsversuche beschleunigt! Dies bringt uns zur dritten Wahrheit: Veränderung geschieht in Beziehung - Beziehung zu unseren Kindern und zu Gott. Indem wir mit unseren Kindern reden, über unsere eigenen Schwächen und Sünden, unser Fallen und Aufstehen, über Nachfolge und Gnade, über Nächstenliebe, Verzichten und Geniessen. Indem wir miteinander unterwegs sind, vorleben, vorzeigen. Beziehung ist auf die Dauer so viel wichtiger als das ‘richtige Verhalten’ im Moment. Beziehung leben meint nicht, dass wir Fehler wegreden. Das Kind muss verstehen lernen was richtig und was falsch ist. Aber in Beziehung darf das Kind merken, dass es angenommen ist und dass ihm vergeben wird, selbst wenn es Fehler macht und dass es umkehren, lernen und wachsen darf.


Lasst uns das Wichtigste nicht vergessen! Wir alle hätten selbst genug Grund uns zu schämen. Wir alle sind irgendwie zu kurz geraten. Niemand von uns erfüllt seine eigenen Standards, geschweige denn lebt er oder sie gemäss Gottes Maßstäben. Aber, und das ist das Gewaltige, Gott nimmt uns in Christus als seine Kinder an! Christus deckt unsere Fehler und unsere Scham zu! Wir sind angenommen und geliebt und zur Veränderung berufen. Je mehr wir diese Gnade verstehen und annehmen, desto mehr wird es uns gelingen, unsere Kinder mit ihren Schwächen und Fehlern anzunehmen und in eine wahre Veränderung zu begleiten. Eine Veränderung, die durch das Evangelium geschieht. Was für einen Unterschied dies für unser Familienklima machen wird - weg von Scham und Rechtfertigung zu Annahme und echter Beziehung!

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