top of page
  • matt studer

Der Staat Israel und das Land Palästina - ein biblisch-hermeneutischer Versuch


Die nun zusammengekommen waren, fragten ihn und sprachen: »Herr, ist jetzt die Zeit gekommen, in der du das israelitische Reich wiederherstellst?« Jesus gab ihnen zur Antwort: »Es steht euch nicht zu, Zeitspannen und Zeitpunkte zu kennen, die der Vater festgelegt hat und über die er allein entscheidet. Aber wenn der Heilige Geist auf euch herabkommt, werdet ihr mit seiner Kraft ausgerüstet werden, und das wird euch dazu befähigen, meine Zeugen zu sein – in Jerusalem, in ganz Judäa und Samarien und überall sonst auf der Welt, selbst in den entferntesten Gegenden der Erde.« (Apostelgeschichte 1,6-8)

Die Israelkrise schockiert uns zutiefst. Unter dem Strich geht es dabei nicht zuletzt um ein Stück geografisches Land. Wer hat Anrecht auf den 'heiligen Boden'? Denn heilig ist der Boden für die Juden und für die Araber. Die palästinensischen Araber protestieren, dass sie im Jahre 1948 durch die Juden von ihrem Heimatboden vertrieben wurden. Die Juden dagegen antworten, dass sie Anrecht auf diesen Boden hätten, weil schon ihre Vorfahren hier beheimatet waren. Konservativ-religiöse Juden und manche evangelikalen Christen gehen noch einen Schritt weiter: Das Land gehört dem jüdischen Volk, weil Gott es ihnen damals, in biblischen Zeiten, gegeben hat. Es ist das Land seines Bundes mit Israel.


Dabei unterscheiden sich das völkerrechtliche und das religiöse 'pro-Israel-Argument' grundlegend voneinander. Die Hauptgründe der (westlichen) politischen pro-israelischen Gemeinschaft lauten: Die Juden sind über die Jahrhunderte derart unterdrückt worden, dass man ihnen (vor allem nach dem zweiten Weltkrieg) ein Heimatland schuldet. Und Palästina bietet sich gut an, weil dieses Gebiet ja eben ihr Vorfahrenland ist. Das religiöse Argument dagegen besagt: Nicht nur, dass wir Israel aufgrund seiner Leidensgeschichte ein Land schulden. Nein, das Land steht ihnen zu, weil Gott es ihnen damals, nachdem er sie aus Ägypten geführt hatte, als ewiges Land versprochen hat. Laut diesem Argument hat Israel ein Gott-gegebenes Anrecht auf das Land.


Bei diesem heiklen Thema macht es Sinn, die Karten von Anfang an offen auf den Tisch zu legen. Ich stehe klar hinter dem völkerrechtlichen Argument, im Bewusstsein und mit realistischem Blick auf die jüngste Geschichte, dass die Angelegenheit verzwackt und alles andere als simpel zu lösen ist. Ich stehe weniger hinter dem religiösen Argument, dass das moderne Israel ein göttliches Anrecht auf Palästina habe. Ich weiss wohl, dass ich mit diesem Eingeständnis für einige meiner Glaubensgeschwister bereits verdächtig in Richtung anti-Israel rutsche. Darf ich darum an eure Grosszügigkeit appellieren? Ich glaube, dass es gerade bei diesem Thema wichtig für uns ist, einander zuzuhören und einander nicht von vornherein abzustempeln (und uns dann gegebenenfalls auch stehen zu lassen).


Gerade wegen all der theologischen Fragen, die rund um diese Situation auftauchen, ist es wichtig, theologisch um Antworten zu ringen. In diesem Artikel möchte ich aufzeigen, dass die hermeneutische Strategie, eine direkte Fluglinie von den Alttestamentlichen Prophetien zum modernen Staat Israel zu ziehen, dem Flow der biblischen Story und der hermeneutischen Praxis der Apostel nicht gerecht wird. Dabei geht es um ein sachliches Argument. Wer sich die Zeit nehmen möchte, eine alternative Lesart der biblischen Story und Israel kennen zu lernen, lade ich herzlich dazu ein.



Das religiöse Argument 'pro moderner Staat Israel' etwas besser verstehen

Und ich werde eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Nationen und aus allen Orten, wohin ich euch vertrieben habe, spricht der HERR; und ich werde euch an den Ort zurückbringen, von wo ich euch weggeführt habe. (Jer 29,14)

Es ist schon spannend, dass 1948, nach so langer Zeit, der moderne Staat Israel aus dem Boden gestampft wurde. Nachdem die Juden für so viele Jahrhunderte in der Diaspora leben mussten, konnten die, die es wollten, nun endlich ins Land der Väter zurückkehren. Ich muss zugeben, es liegt schon nahe, dies als eine Erfüllung dessen zu sehen, was Gott den Vätern und Müttern des modernen Israel damals verheissen hatte. Die Prophetie des Jeremia ist insofern interessant, dass er von einer Rückkehr 'aus allen Nationen', nicht nur aus Babylon spricht (vgl. auch Jesaja 11,11-12). Dies entspricht der heutigen Situation, wo Juden aus allen Ecken der Erde ins Land zurückgekehrt sind. Dazu passt Jesaja 11,11, wo von einer 'zweiten Rückkehr' die Rede ist. So könnte man dies ja auf die heutige Situation beziehen: Die erste Rückkehr war geschichtlich die Rückkehr aus dem Exil in Babylon. Die zweite Rückkehr aber ereignet sich heute, vor unseren Augen. Auch Sacharja 8,1-8 lässt sich gut für diese 'zweite Rückkehr' heranziehen, da der Prophet Israeliten anspricht, die damals bereits ins Land zurückgekehrt waren. Es müsste sich folglich um eine zukünftige Rückkehr handeln.

Ich will sie heimbringen, dass sie in Jerusalem wohnen. Und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein in Treue und Gerechtigkeit. (Vers 8)

Mit der politischen Neugründung Israels geht auch eine ökologische und wirtschaftliche Erneuerung einher, so wie Jesaja es prophezeite: 'Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.' (Jesaja 35,1) Das Wüstenland Israel wurde nach der Staatsgründung wieder fruchtbar gemacht, neue Dörfer wurden gegründet und neue Städte gebaut.


Auch im Neuen Testament finden wir Aussagen, die auf eine Wiederherstellung Israels hindeuten könnten. Im Lukasevangelium lesen wir: 'Jerusalem wird von fremden Völkern niedergetreten werden, bis deren Zeit abgelaufen ist.' (Lk 21,24) Und redet nicht Jesus in Matthäus 19,28 davon, dass die zwölf Stämme irgendwann wieder gesammelt werden? Wie sonst könnten die Jünger über sie richten? Und so weiter und so fort...


Dies sind nur ein paar wenige Beispiele, deren man sich bedienen kann, um das 'religiöse Argument' (das moderne Israel hat ein göttliches Anrecht auf das Land, weil es ihnen von Gott auf ewig vermacht wurde) zu untermauern und biblisch zu argumentieren, dass Gott die Rückkehr seines Volkes ins Land schon durch seine Propheten angekündigt hat. Und doch ist diese Argumentations-Linie nicht schlüssig. Warum?



Das Bundesvolk Israel des Alten Testaments im Kontext der globalen Heilsgeschichte

Die Frage nach der Erfüllung der Alttestamentlichen Prophetie muss im Lichte der Gesamtperspektive untersucht werden, die das Alte Testament durchdringt, nämlich Gottes Absicht für die gesamte Menschheit und für die ganze Erde. (Christopher J. Wright, A Christian Approach to Old Testament Prophecy Concerning Israel)

Dieser Satz steht programmatisch dafür, wie man die Geschichte Gottes mit Israel auch noch lesen kann. Warum erwählte Gott Israel (und zuvor Abraham und seine Familie)? Weil er immer schon globale Absichten hatte: 'In dir [Abraham] sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.' (Gen. 12,3) Das Volk Israel sollte die 'ganze Welt' erreichen, dadurch dass es Gottes Gebote hielt und die anderen Völker sehen konnten, wie gut ihr Gott, der HERR, ist. (Deut 4,6)


Wenn wir einen Zeitsprung ins Neue Testament machen sehen wir, dass Jesu Mission diesen universalen Charakter widerspiegelte. Auch wenn seine Mission ihren Anfang bei den 'verlorenen Schafen Israels' nahm (Mt 10,5-6), Jesus expandierte den Radius für seine Jünger: 'Man wird euch um meinetwillen vor Machthaber und Könige führen, und ihr sollt vor ihnen und vor allen Völkern meine Zeugen sein.' (Mt 10,18; vgl. auch Mk 13,10) Um die Universalität seiner Mission zu betonen, las Jesus das AT so, wie man es eigentlich dem Schulbuch nach nicht tun dürfte: 'Viele werden kommen von Osten und von Westen und mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen.' (Mt 8,11) 'Von Osten und von Westen' ist eine klare Anspielung auf Jesaja 43,5 (vgl. auch Ps 107,3), eine Stelle, die allerdings an das Volk im Exil und nicht an Heiden gerichtet war. Aber Jesus bezieht sie hier auf den Glauben des heidnischen Hauptmanns und all die 'vielen', die mit ihm ins Himmelreich Gottes kommen würden. Chris Wright fasst es so zusammen:

Auf diese Weise scheint Jesus tatsächlich die eigentliche Bedeutung der „Wiederherstellung Israels“ im Hinblick auf die Heiden neu zu definieren und zu erweitern.

Dieses und andere Beispiele [1] zeigen, dass die Heilsgeschichte (Gottes Geschichte mit seinem Volk) mit Jesus einen grossen Sprung vorwärts tat. In Christus brach die Erfüllung der prophetischen Hoffnung bereits an. Das Königreich Gottes war da (Lukas 17,20-21). Jesus selbst sah sein Wirken als Erfüllung der alttestamentlich prophetischen Hoffnung (Lk 4,16-21). Doch wie müssen wir uns die Wiederherstellung Israels im Lichte der Mission Jesu vorstellen? Die Erwartung des Volkes Israels war schon damals ganz eng mit dem geografischen Land verbunden: Der erwartete Messias sollte das Volk von der römischen Fremdherrschaft befreien, damit sie frei im Land wohnen und Gott dort anbeten konnten. Aber der Plan Gottes war anders gelagert. Jesus stellte Israel wieder her, aber eben nicht indem er die Römer vertrieb, sondern indem er am Kreuz für die Sünden Israels starb. Wer sich ihm zuwandte, der wurde gerettet und durfte in sein Königreich eingehen. Jesus selbst war der Neuanfang Israels. Er ist der wahre Weinstock (Joh 15,5), eine Bezeichnung die im Alten Testament dem Volk Gottes zugeschrieben wurde (vgl. Jeremia 2,21). Er ist auch der Spross aus dem Stamm Isais (Jesaja 11,1), aus dem das wiederhergestellte Israel wachsen wird. So ist es kein Zufall, dass Jesus in Anlehnung an die zwölf Stämme Israels auch zwölf Apostel erwählte, die sein wiederhergestelltes Volk anleiten sollten. Natürlich kann man solche Winke mit dem Zaunpfahl als 'unwichtig' abtun. Für mich ist jedoch klar, dass Gott durch und in Jesus Israel wiederherstellte und neu konstituierte und dass sich die prophetische Hoffnung zu erfüllen begann. Wie sonst liesse sich - um nur ein Beispiel zu nennen - das Loblied Marias einordnen, als sie realisierte, was für ein Kind sie trug?

Er [Gott, der Vater] hat sich seines Dieners, des Volkes Israel, angenommen, weil er sich an das erinnerte, was er unseren Vorfahren zugesagt hatte: dass er nie aufhören werde, Abraham und seinen Nachkommen Erbarmen zu erweisen. (Lk 1,54-55)

Durch den Tod uns die Auferstehung Jesu begann Gott sein Volk wiederherzustellen. Als Jesus mit den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus alle Schriften des Alten Testaments durchbuchstabierte (die gemäss seiner Hermeneutik ja alle von ihm sprachen) machte er bestimmt auch beim Propheten Hosea Halt. Denn dort liest man:

Kommt, wir wollen wieder zum HERRN; denn er hat uns zerrissen, er wird uns auch heilen, er hat uns geschlagen, er wird uns auch verbinden. Er macht uns lebendig nach zwei Tagen, er wird uns am dritten Tage aufrichten, dass wir vor ihm leben. (Hosea 6,1-2)

Dies ist eine der wenigen Prophezeiungen (die Einzige?), die man auf die Auferstehung nach drei Tagen hin deuten könnte. Sie steht im Kontext der Wiederherstellung des von Gott verworfenen Volkes im Alten Testament. Jesus, indem er den Jüngern von Emmaus diese Stelle erläutert, verknüpft die Wiederherstellung Israels mit seiner Auferstehung. Durch seine Auferstehung nach drei Tagen wird das Volk in ihm wiederhergestellt. Auch Petrus sieht die Verheissungen eines ewigen Thrones für David in der Auferstehung und Himmelfahrt Christi erfüllt (vgl. Apg. 2,29-36). Es liessen sich andere Beispiele anfügen. Chris Wright zieht folgenden Schluss:

Sowohl Jesus als auch seine unmittelbaren Nachfolger, die Apostel, sagen uns, dass Gott in den Ereignissen seiner [Jesu] Ankunft, seines Lebens, seines Todes, seiner Auferstehung und seiner Erhöhung entscheidend für die Erlösung und Wiederherstellung seines Volkes Israel gehandelt hatte und damit die gesamte Bandbreite alttestamentlicher Prophezeiungen erfüllte. Dabei ging es um eine schon gegenwärtige Realität und nicht um eine noch zukünftige Hoffnung. „Die Zeit war erfüllt...“

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Wiederherstellung Israels, durch die Propheten des Alten Testaments vorhergesagt, ereignete sich in Jesus und dann in seinen Nachfolgern, die den Anfang der Kirche, des Volk Gottes des neuen Bundes konstituierten (1. Petr. 2,9-10). Dabei wurden die nationalistischen Hoffnungen der Juden 'transzendiert'. Das grosse Geheimnis, das im Evangelium enthüllt wurde, besteht genau darin, dass die (nationale) Trennwand zwischen Juden und Heiden niedergerissen wurde (Eph. 2,11-22). Und durch die Mission, die Jesus initiierte ('von Jerusalem über Samaria bis an die Enden der Erde') wird verdeutlicht, dass die Wiederherstellung Israels die Heiden nun miteinschloss. Was sich hier ereignete war ein fundamentaler Einschnitt - oder vielleicht besser Fortschritt - in der Heilsgeschichte Gottes. Dieser Quantensprung mag einige der Juden damals (so wie heute noch) überrascht haben (vgl. Lk 2,34). Das national-theokratische Israel, als das Bundesvolk Gottes, war eine 'Station' auf dem Weg der globalisierenden Heilsgeschichte Gottes (genauso wie Noah, Abraham und seine Familie solche Zwischenstationen waren). Die einen sehen das als Ersatztheologie (= die Gemeinde ersetzt Israel). Ich sehe es als eine logische Konsequenz der fortschreitenden Heilsgeschichte Gottes. Es geht nicht darum, dass man die Juden hier enterbt. Nein, vielmehr werden die Heiden zu Miterben der Verheissungen, zusammen mit den Juden. (Epheser 3,6) [2]


Dass Gott nicht bei der israelischen Theokratie stehen bleibt, tut seinen Verheissungen keinen Abbruch. Aber es offenbart den fortschreitenden und globalisierenden Charakter seines Heilsplans: Es geht Gott nicht nur um das Land, in dem sein Bundesvolk heimisch war. Es geht ihm um die ganze Erde.



Was aber geschieht mit den Landverheissungen?

Was bedeutet das nun in Bezug auf das Land, welches Gott damals Abraham und seinen Nachkommen auf ewig verheissen hatte (1. Mose 13,15)? Hier ist es matchentscheidend, dass wir den fortschreitenden Charakter von Gottes Heilsgeschichte als Linse nehmen, um die Landverheissung im Blick auf die ganze Geschichte hin zu verstehen. Bereits die Tatsache, dass Israel über mehrere tausend Jahre nicht im Landbesitz war, könnte uns stutzig machen. Wie konnotieren wir 'ewig', wenn Israel einen so langen Unterbruch in Kauf nehmen musste? [3] Das 'Land' war ein ganz integraler Bestandteil der israelischen Identität im Alten Bund (zusammen mit dem Tempel, dem Priester- und dem Königtum). Das Land war nicht einfach nur geografisch als 'Israel's Boden' markiert. Es gehörte Gott (Lev. 25,23), war darum heilig und durfte nicht durch unreine Praktiken 'entheiligt' werden (Lev. 20,22-24). Als Jesus kam und Israel wiederherstellte (im Sinn wie ich es beschrieben habe), scheint dieser Aspekt keine wichtige Rolle gespielt zu haben (?) Jesus wirkte zwar auf dem 'heiligem' Boden, sprich er wirkte innerhalb der damaligen Landesgrenzen und nur wenig darüber hinaus. Doch schien das, was er tat und sagte, diesem Land nicht allzu viel Bedeutung beizumessen. Vielmehr sei sein Reich nicht von dieser Welt, wie er dem Pilatus antwortete, der es nicht begreifen konnte, warum die Juden Jesus verhafteten. Er war ja kein messianischer Revolutionär der, wie angenommen, das besetzte Land mittels eines militärischen Aufstandes von den Römern 'säubern' würde. Kümmerte sich Jesus also gar nicht um diesen so wichtigen Aspekt der jüdischen Identität? In vergleichbarer Manier mass er auch dem Tempel nicht das Gewicht bei, das ihm die Juden beimassen:

»Reißt diesen Tempel ab, und ich werde ihn in drei Tagen wieder aufbauen.« – »Wie?«, entgegneten sie. »Sechsundvierzig Jahre lang wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufbauen?« Doch Jesus hatte mit dem Tempel seinen eigenen Körper gemeint. (Joh. 2,19-21)

Jesus hatte die Angewohnheit, das mosaische Judentum - den alten Bund - auf den Kopf zu stellen, vor allem was dessen äussere Merkmale betraf. Er gab dem fest etablierten Vokabular neue Konnotationen, wobei solche Bedeutungstransformationen immer über das hinaus wiesen, was bis dahin allgemein gegolten hatte (obwohl das kein Novum war, hatte doch das AT viele dieser 'Erweiterungen' schon vorweggenommen, hätte man nur darauf geachtet [4]). Beispiele: Das aaronitische Priestertum (das ebenfalls als 'ewig' vorgesehen war: siehe 1. Chronik 23,13) fand seine Erfüllung in ihm. Ebenso der Tempel, der Thron und das davidische Königtum (alle mit 'Ewigkeits-Charakter': 2. Samuel 7,12-16). Man kann sich gut vorstellen, dass Jesu 'Behauptungen', dass er der wahre Tempel, der eigentliche Hohepriester und der wahre Sohn Davids war, der ewig auf dem Thron sitzen würde, nicht so einfach zu schlucken waren - gingen sie (diese Behauptungen) gefühlt doch gegen den Strich der national-religiösen Identität.


Jesus waren diese Identitätssymbole nicht einfach egal. Er kam nicht, um den Alten Bund mit einem Lappen wegzuwischen. Er kam vielmehr um ihn zu erfüllen. Und hat 'Erfüllung' nicht wesentlich damit zu tun, dass etwas 'ganz gefüllt' wird, dass etwas endlich zu dem wird, für das es von allem Anfang an vorgesehen war? Der Hebräerbrief spricht in diesem Zusammenhang von den Institutionen des Alten Bundes als von einem Schattenbild der himmlischen Wirklichkeit, die in Jesus nun Realität wurde (Hebräer 8,5; 10,1). Ja, diese Institutionen (das Gesetz, das Priestertum, das Königtum) haben Ewigkeitscharakter. Aber ihre ewige Erfüllung manifestiert sich nicht im 'Alttestamentlichen Sinn' (so dass z. B. das Priestertum, wie es das mosaische Gesetz will, für immer so weiterlaufen muss), sondern in der Person und dem Werk von Jesus Christ, dem Messias, dem Sohn Gottes.


Wie aber transformiert das Kommen Jesu die Bedeutung des Landes? Wie wir gesehen haben, war das Thema 'Land' stark mit der national-theokratischen Identität Israels als dem auserwählten Volk Gottes verbunden. Das Land war der geografische Platz, an dem Gott unter seinem Volk weilen konnte und der Ort, wo er seine Pläne mit der ganzen Welt nußschalenartig zu verwirklichen begann (wobei sein Volk sich ihm häufig quer stellte). Der Hebräerbrief transformiert auf spannende Art auch das lokale Bedeutungsspektrum des Landes, oder besser, gibt ihm einen 'himmlischen' Twist: 'Ihr hingegen seid zum Berg Zion gekommen, zur Stadt des lebendigen Gottes, zu dem Jerusalem, das im Himmel ist.' (Hebr. 12,2) Vern Poythress stellt dazu fest:

Als heiliges Land war das Land Gottes Herrschaft über seine himmlische Wohnstätte nachempfunden, veranschaulichte aber auch, was Gott in den letzten Tagen mit der ganzen Erde tun würde.“ „Der Berg Zion und das himmlische Jerusalem in Hebräer 12:22 müssen ebenfalls die himmlischen Originale sein.“ wovon der Berg Zion und Jerusalem im Alten Testament „Kopien und Schatten“ waren. (Understanding Dispensationalists, S. 199)

Ja, Abraham, der Stammvater des Volkes Israels, dem Gott das Land versprochen hatte, wartete, wie uns der Hebräerbrief mitteilt, letzten Endes gar nicht auf dieses Stück Land, in dem seine Nachkommen dann für ein paar hundert Jahre wohnen sollten. 'Er sehnte sich nach einer besseren Heimat, nach der Heimat im Himmel' und 'wartete auf die Stadt [das himmlische Jerusalem], die wirklich auf festen Fundamenten steht, deren Gründer und Erbauer Gott selbst ist.' (Hebräer 11,16 und 11,10) Das ist nicht weiter verwunderlich wenn man bedenkt, dass Gottes Pläne mit dieser Welt die ganze Welt miteinschliessen. Wie wir gesehen haben, nimmt der Plan Gottes mit dem Kommen Jesu globalere Züge an (über Samarien bis ans Ende der Welt). So globalisiert Jesus auch den Psalm 37,11: 'Die Sanftmütigen werden das Land besitzen' hin zu 'Die Sanftmütigen werden die Erde als Besitz erhalten.' (Matthäus 5,5) [5] Und Gottes Herrlichkeit wird sich in Zukunft auch nicht auf einen bestimmtes Fleckchen Erde (oder gar 'nur' den Tempel) beschränken:

Denn die Erde wird erfüllt werden von der Erkenntnis der Herrlichkeit des HERRN, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken. (Habakuk 2,14)

Das Thema 'Land' entwickelt sich in der biblischen Story also progressiv weiter. Ich habe hier von den Landverheissungen an Abraham in Richtung neuer Bund argumentiert. Man könnte das Argument auch 'rückwärts' starten: Das Land Israel war wie ein neues Eden (vgl. Jesaja 51,3). Das Volk Israel bekam den Auftrag, gut über das Land zu herrschen, so wie Adam es im ersten Eden tun sollte. Doch auch Israel versagte, so wie der erste Adam versagte. Gefragt war ein zweiter Adam (Röm. 5, 1. Kor 15,45), der die göttliche Herrschaft über das Land wiederherstellen und auf die ganze Welt ausweiten würde.



Nehmen wir die Alttestamentliche Prophetie nicht zu wenig ernst?

Christopher Wright beobachtet:

Wenn Propheten über die Zukunft sprachen, konnten sie dies nur sinnvoll tun, indem sie Begriffe und Realitäten verwendeten, die in ihrer vergangenen oder gegenwärtigen Erfahrung existierten. Zu den Realitäten, die mit der Existenz Israels zu ihrer Zeit verbunden waren, gehörten ihre spezifische Geschichte und Dinge wie das Land, das Gesetz, Jerusalem, der Tempel, Opfer und das Priestertum. All dies hatte erhebliche Bedeutung für die Beziehung Israels zu Gott und auch für die letztendliche Rolle Israels in Bezug auf die Nationen und ihre Beziehung zu Gott. Damit Propheten über Gottes zukünftiges Handeln mit Israel und den Nationen sprechen konnten, mussten sie sich auf diese gegenwärtigen Realitäten beziehen.

Der Vorwurf seitens dispensationalistischer Ausleger an diese Lesart der AT-Prophetie lautet, dass Prophetie hier 'verspiritualisiert' werde, anstatt sie wörtlich zu nehmen, so wie sie im ursprünglichen Sinn gemeint war. Eine wortwörtliche Lesart postuliert, dass sie die Bibel ernst(er) nimmt, weil sie die ursprüngliche Intention der Autoren beachtet, wogegen bei einer typologischen Lesart weit über den ursprünglichen Textsinn hinaus spekuliert werde. Stimmt diese Annahme? Wir öffnen wieder einmal ein grosses hermeneutisches Fass. Ich muss mich auf ein paar wenige Statements begrenzen.


Erstens, wie wir oben gesehen haben entspricht es der Praxis der Apostel und Jesus, AT-Prophetie heilgeschichtlich fortschreitend zu interpretieren. Mit der Ankunft des Messias auf dieser Erde hat sich die Tür zu Gottes sich progressiv entfaltendem Heilsplan mehr als nur einen Spalt weit geöffnet und so 'alte Realitäten' in einem neuen Licht erstrahlen lassen. Man könnte hinzufügen, dass die Propheten oftmals weit über ihren Tellerrand blicken durften und so Schnappschüsse des universalen Plans Gottes sichtbar wurden. Zweitens, wie Chris Wright im obigen Zitat bemerkt, 'arbeiteten' die Propheten mit dem Material, das ihnen zur Verfügung stand. Ihr Vokabular bezog sich auf die gegenwärtigen Realitäten wie Tempel, Priester und eben Land, ohne dass sie im Detail ahnen konnten, wie all das durch die Ankunft von Jesus transformiert werden würden. Christopher Wright schlägt darum vor, dass wir nicht nur danach fragen, wie eine prophetische Aussage im damaligen Kontext verstanden wurde (so wichtig dies für unser Verständnis ist), sondern 'wofür' die Verheissung steht. Welches Thema wird durch das prophetisches Vokabular transportiert, das in spätere Kontexte hinein 'übertragen' wird?

Spätere Umstände können bedingen, dass der Sinn und die Motivation des Versprechens weit über die Erwartungen der ursprünglichen Worte hinaus erfüllt werden.

Mein Votum ist, dass wir der biblischen Prophetie nur dann gerecht werden, wenn wir sie auf diese Art und Weise 'vorwärts' lesen. Zu postulieren, dass gewisse Erfüllungen noch ausstehen, weil sie sich damals nicht wortwörtlich so erfüllt haben (wie Aussagen über den zweiten Tempel oder über das Land), wird der Hermeneutik der Apostel und Jesus nicht gerecht und steht irgendwie quer zum Flow der biblischen Story. (Dazu müssen wir sagen, dass viele Prophetien sich damals tatsächlich 'historisch' erfüllt haben. Nicht jede Prophetie betraf den fernen Horizont der Zukunft).


Drittens, die Bibel auf diese Art 'progressiv' zu lesen bedingt eigentlich nicht, die ganze prophetische Hoffnung, die gerade in Bezug auf das Landthema so konkret irdisch ist, einfach in einen luftleeren geistlichen Raum zu 'spiritualisieren'. Nein, die Hoffnung bleibt materialistisch, geografisch. Die Landverheissungen des Alten Testaments werden sich letztlich in einer neuen Erde verwirklichen, die wir erben, bewohnen und bebauen dürfen.



Ein Schlusswort

Gott gab seinem Bundesvolk Israel damals ein Stück Land, in dem sie wohnen, wirken und ihn anbeten konnten/sollten. Gott verheisst seinem Volk des Neuen Bundes heute, dem Volk bestehend aus Juden und Heiden, die ganze Erde. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass das heutige Israel (das - ausgenommen den messianischen Juden - nicht zum Volk des Neuen Bundes zählt) aus völkerrechtlichen Gründen Anrecht auf Palästina hat. Doch heilgeschichtlich viel zentraler ist, dass sich das ethnische Israel wieder Gott zuwendet und so als der originale Ölzweig wieder in den Ölbaum eingepropft wird. Nur so kann Israel wieder in den Genuss all der Verheissungen, inklusive Landverheissungen, kommen. Beten wir für eine Verwirklichung dieser noch ausstehenden Hoffnung!


-------------------------------------------------------------------------------------------------

Für diesen Artikel habe ich immer wieder auf Chris Wright's Artikel zurückgegriffen. Wer das Thema noch vertiefen möchte, dem lege ich folgende zwei Bücher ans Herzen:

  • Vern Poythress, Understanding Dispensationalists

  • Anthony Hoekema, The Bible and the Future



[1] Chris Wright meint:

Paulus tut dasselbe in Römer 9,24f., wenn er Hosea 1,10 und 2,23, der sich in seinem Kontext eindeutig auf Israel bezieht, aufnimmt und diese Verse auf nichtjüdische Gläubige anwendet. Und dies ist genau der Punkt, wie Jakobus die Ereignisse in Apostelgeschichte fünfzehn interpretiert. Er sieht im Erfolg der Heidenmission die Erfüllung einer Prophezeiung, die sowohl Israel als auch die Nationen betrifft: Das Haus Davids wird wiederhergestellt und die Nationen suchen den Herrn (Apostelgeschichte 15:12-18, Amos 9:11f.).

[2] Dazu müsste man beachten, dass selbst in Alttestamentlichen Zeiten nicht alle aus Israel automatisch zum 'wahren Gottesvolk' gehörten. Wright formuliert:

Selbst in der Zeit des Alten Testaments war es fraglich, eine eindeutige Identifizierung zwischen Israel als „Volk Gottes“ und dem damaligen Nationalstaat in irgendeiner seiner Phasen vorzunehmen: Die Idee eines treuen „Überrests“ findet sich bereits zur Zeit Elias (1. Könige 19:18). Im NT wird die Vorstellung, dass die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft ausreichte, um wirklich zum Volk Gottes zu gehören, von Johannes dem Täufer (Lk 3,8) und von Jesus (Joh 8,33-44) und von Paulus (Röm. 2:28, 9:6ff.) bestritten.

[3] Hebräisch-Spezialisten könnten mehr dazu sagen, welches Bedeutungsspektrum das Wort 'ewig' (olam) hat.


[4] Das AT nahm beispielsweise vorweg, dass es Gott nicht um die Opfer an sich, sondern um das Herz geht (Ps 50), oder dass der königliche Sohn David's Gottes Sohn ist (Ps 2).


[5] Das hebräische Wort 'erez' kann sowohl Land als auch Erde (= die ganze Welt) meinen.

305 Ansichten2 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page