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  • matt studer

Welt ohne Gott! - Gottlos glücklich, aber ...


I don't believe in God, but I miss him.

(Julian Barnes)


Anaïs will nicht ausschliessen, dass es allenfalls etwas Höheres gibt. Wirklich zu beschäftigen scheint sie die Frage aber nicht. Ihr Bruder, 17, ein Jahr jünger als Anaïs, siehts nüchtern: «Ich glaube an die Schwerkraft. An das, was ich sehe, nicht an was Übernatürliches.» Nach dem Tod wird das Licht gelöscht. Fertig.

 

Wenn ich mit meinen nicht-christlichen Freunde über meinen Glauben spreche, sehen sie zwar ein, dass MEIN Glaube für MICH relevant ist, mir etwas bringt – vielleicht Trost oder Halt im Leben – darüber hinaus aber nicht zwingend interessant, geschweige denn relevant für sie sein könnte. Glauben ist etwas, dass man individuell tun oder auch lassen kann. Das ganze Glaubensding ist Privatsache, ein Hobby für die, die so etwas brauchen.

 

So wird der christliche Glaube manchmal als eine mehr oder weniger neutrale Variante für den privaten Heimgebrauch gesehen, solange er sich nicht nach aussen bemerkbar macht oder gar anderen ‘übergestülpt’ wird. Häufig wird der christliche Glaube aber als eine gefährliche und schädliche Substanz deklariert, vor allem im Zusammenhang mit institutioneller Kirche oder Moral. 'Der christliche Glaube vertritt eine altbackene Moral, die den Menschen einengt, ihm schadet, ihn daran hindert, seine persönliche sexuelle Identität auszuleben’, so hört man. Oder ‘dieser Glaube verleitet dazu, dass man nur das Negative im Menschen sieht und sein positives Potenzial unterschätzt. Der Fokus auf der Sündhaftigkeit des Menschen verhindert, dass der Mensch sich voll entfalten kann'. Ist der christliche Glaube nicht eine Zwangsjacke? Bin ich nicht freier, weltoffener, toleranter und ehrlicher, wenn ich ohne irgendein Glaubenskonstrukt lebe? Genauso konnotiert es jedenfalls eine Glaubensaussteigerin, die über ihren Ex-Glauben blogt:

Der Abschied vom Glauben hat mir vor allem eins geschenkt: Freiheit.

Das Leben in einer säkularen Welt (siehe dazu meinen ersten Artikel) geht ganz gut ohne Gott. Wir füllen das Gott-Vakuum mit einem gut ausgelasteten Leben im Diesseits. Wir wollen sinnvoll leben, diese Welt zu einem besseren, humaneren Ort machen. Und so streben wir danach, die höchsten und unantastbaren Werte der Freiheit und Gleichheit in unseren Gesellschaften zu verwirklichen. Charles Taylor bezeichnet dies als exklusiven Humanismus: Wir streben nach diesem humanistischen Ideal, aber ohne Gott, weil es sich ganz gut oder eigentlich sogar besser ohne ihn verwirklichen lässt. Wir streben nach diesem Ideal innerhalb des immanenten Rahmens, ohne Bezug zu Religion und zu Gott. In diesem Sinn formuliert es zum Beispiel diese Gruppe, die sich als Union of Rationalist Atheists and Agnostics bezeichnet:

[There are ] billions of people across the world who “live well without God” - people who lead an ethically-oriented life with no need or desire to embrace any religious faith.

In diesem Blogartikel möchte ich nun etwas konkreter auf die 'Unstimmigkeiten', wenn ich es so nennen darf (Taylor nennt es cross-pressures) eingehen, die ein Leben unter der Sonne und ohne Gott mit sich bringen kann. In anderen Worten, wie fühlt es sich an, in einem säkularen Zeitalter zu leben?


Doch zunächst wollen wir uns noch etwas vertiefter der säkularen Story widmen und uns fragen, warum sie so überzeugt (oder warum wir sie einfach so glauben).

Dazu kurz diese einleitende Begriffsklärung, damit wir dann möglichst ohne Turbulenzen losfliegen können. Taylor, dessen Analyse in seinem A Secular Age ich als fundamental für unsere Diskussion sehe, spricht hier und da von diesen zwei Begriffen: Transzendenz und Immanenz. Für alle Nichtphilosophen: was meint er damit? Mit Transzendenz bezieht sich Taylor auf eine spirituelle, göttliche oder religiöse Dimension, die über eine rein materialistische Darstellung der Welt hinausgeht (nicht alles ist Materie - es gibt Geister und Götter und eine unsichtbare geistliche Dimension). Mit Immanenz bezieht er sich auf das Gegenteil, logischerweise: Es lässt sich alles wissenschaftlich erklären. Es gibt keine Dimension ausserhalb des Materiellen - es gibt keine Geister und Götter. Ungefähr so.



Die Kraft der säkularen Story

Hast du auch schon 'Bekehrungserlebnisse' dieser Art gehört? Mann oder Frau ist mit dem christlichen Glauben gross geworden (ganz gerne in Verbindung mit einer engen, fundamentalistischen Kirche, lies Sekte). Der Glaube an Gott war normal und bestimmte das Leben. Aber dann fing man an zu zweifeln, ob das mit Gott und dem Glauben nicht irgendein Placebo-ähnliches Konstrukt ist und wie es denn so wäre ohne Gott. Man lernt Menschen kennen, die ihr Leben scheinbar recht gut (oder sogar besser) auf die Reihe kriegen als so manche aus den gläubigen Reihen. Vielleicht ist es ein Schicksalsschlag, der einen fragen lässt, wie das ganze Gott-Ding hier noch Sinn ergibt. Auf jeden Fall wird der Glaube an Gott dann auf die eine oder andere Weise als überflüssiges Gepäck über Bord geworfen. Nun fühlt sich das Leben irgendwie leichter und befreiter an. Der frühere Glaube wird jetzt als Aberglaube gesehen, so wie eine kindische Phase von früher. Jetzt aber ist man erwachsen und kann sich wie ein Erwachsener verhalten. Man hat sich zum säkularen Leben bekehrt.


Ich weiss nicht, ob diese Erzählung eine Räsonanz bei dir erzeugt. Vielleicht bist du ja seit Geburt non-religiös. Vielleicht bist du nicht christlich aufgewachsen, aber warst eine Zeit lang offen für den Glauben, bis du gemerkt hast, dass du Glauben und Wissenschaft nicht vereinbaren kannst. Von welcher Seite her auch immer wir das säkulare Terrain betreten, es wird uns suggeriert, dass wir heute progressiver oder weiter sind als früher, als wir noch 'religiös' waren. Dass wir heute freier, logisch und rational denkender oder selbstbestimmter leben können als dies in religiösen Gesellschaften der Fall war (und immer noch ist). Hierin liegt die Kraft der säkularen Story, dass sie uns Mündigkeit und Freiheit verspricht. Denn wer möchte schon als noch-nicht-ganz-erwachsen bezeichnet werden? Taylor sieht die säkulare Story darum als eine ...

... Geschichte großer moralischer Begeisterung über eine Entdeckung, über eine Befreiung aus einer engen Welt klaustrophobischer Beziehungen, die sowieso nur zu viel Kontrolle und unfaire schwarz-weiss Unterscheidungen mit sich gebracht hat. (A Secular Age, S. 575, meine freie Übersetzung)

Die säkulare Story ist also eine Befreiungsstory. Sind wir uns einig, dass die säkulare Story auch als eine neue Autorität auf den Plan tritt? Gott darf heute eigentlich gar nicht mehr im Programm vorkommen, gerade wenn es darum geht, sich zusammen mit den modernen Humanisten für eine bessere Welt einzusetzen. Taylor beobachtet folgendes:

Man kann sich den zeitgenössischen humanistischen Belangen nicht voll und ganz widmen, wenn man sich nicht von den alten Überzeugungen abgewendet hat. Man kann nicht ganz mit der Moderne mithalten und trotzdem an Gott glauben. (S. 572)

Gott oder Religion stellt sich dem humanistischen Projekt doch eher in den Weg? Gäbe es nicht weniger Fanatiker und weniger Krieg ohne Religion? Fördert das Christentum nicht gerade Intoleranz, den Todfeind des Humanismus? Im Besten Fall ist die Rede von Gott hier einfach nur unnötige Ablenkung, ein Gewicht am Bein des Humanisten.


Das säkulare Narrativ hat auch seine eigene Moral. Nicht länger 'glaube an Gott und tue Gutes!, sondern 'es gibt keinen Gott, also mach DU das Beste aus deinem Leben und aus dieser Welt!'. Dieses Narrativ will uns aufwecken und aktivieren, die grossen Aufgaben anzupacken. Wir reden hier nicht von einer Gutnachtgeschichte, sondern von einer Story, die uns aus dem bequemen Lehnsessel ins aktive Leben befördern möchte. James K. A. Smith formuliert es so:

Wir entdecken, dass wir allein im Universum sind, und wenn es einen Sinn geben soll, müssen wir ihn schaffen. (How (not) to be Secular, S. 101)

Die Selbstverständlichkeit der säkularen Story

Diese Art über die Welt und sein Leben darin zu denken ist zur gemeinsamen Währung geworden und wird auch nicht täglich hinterfragt! Man geht davon aus, dass diese Welt eben so ist wie sie 'ist'. Und wenn man dann doch wieder mal von Menschen hört, die ihr Leben mit Gott in Verbindungen bringen, dann ist es ja völlig klar, dass diese Menschen eben noch nicht im Erwachsenenalter angekommen sind, dass sie das religiöse Placebo halt immer noch schlucken wollen. [1] Timothy Keller formuliert es so:

Hinter diesen [Bekehrungs-]Geschichten verbirgt sich eine tiefere Erzählung … dass ein religiöser Mensch in blindem Glauben lebt, während Säkulare und Ungläubige [nicht Religiöse] ihre Position auf Beweisen und der Vernunft gründen. (Making Sense of God, S. 30)

Keller formuliert treffend, dass diese 'tiefere Erzählung' eben auch ein Narrativ ist, durch das man sich die Welt erklärt. Es ist ein Erklärungsversuch, eine Annahme, die man trifft, weil sie einem sinnvoll erscheint (und nicht, weil sie empirisch beweisbar wäre!). Anders gesagt, die säkulare Story ist selber eine Konstruktion, eine Kreation von uns, nur dass wir das nicht mehr so wahrnehmen, weil wir sie täglich mit der (säkularen) Luft einatmen. Die säkulare 'Entdeckung' ist also keine Entdeckung der Welt, wie sie in Realität ist - nur dass wir das bis anhin nicht mitbekommen haben, weil unser Blick religiös vernebelt war. Dieses Narrativ ist selbst, wie Charles Taylor meint, "ein Versuch, eine Konstruktion, die Schöpfung einer "Welt"." (S. 565) [2] Insofern könnte man sagen, dass man auch dieser Erzählung letztlich 'glauben' muss. Man kann sie nicht einfach voraussetzen. Und darum sollte man hier vielleicht besser von „einem „Vertrauensvorschuss“ (S. 550) sprechen, den man dieser Story gewährt. Keller fasst es so zusammen:

Der Übergang von der Religion zum Säkularismus ist weniger ein Verlust des Glaubens als vielmehr ein Wechsel zu neuen Glaubenssätzen und zu einer neuen Glaubensgemeinschaft, die die Grenzen zwischen Orthodoxie und Häresie anders zieht.


Die Brüchigkeit der säkularen Story, oder wenn wir doch wieder nach Oben schauen

Wir sind also säkular (geworden). Das säkulare Narrativ hat sich fest in unserem Gefühl, in unser Bewusstsein, in unserer Haltung zur Welt eingegraben. Diese Story ist für uns kein Märchen, sondern das, was wir ganz fest glauben (wollen). So wie es diese Story beschreibt, so ist es doch. Wir erleben es so. Doch dann gibt es da die Momente, die Erfahrungen, die Gedanken, die uns manchmal 'zweifeln' lassen. Was, wenn es doch noch mehr gäbe? Wenn die säkulare Sichtweise etwas Wesentliches aussen vor lassen würde?


Taylor beschreibt zunächst einmal, wie wir säkularen Menschen manchmal hin-und-her gezogen werden zwischen zwei extremen Fronten - der Seite eines reinen Materialismus (alles wird auf Materie reduziert) und einer transzendenten, religiösen Seite (alles wird mit Gott in Verbindung gebracht - Gott ist überall - die Welt ist durchlässig das Spirituelle, das Transzendente - und dann irgendwo in der Mitte, etwas mehr links oder rechts, unseren Platz finden.

Wir sind hin- und hergerissen zwischen einer Tendenz gegen alles (Christlich-) Religiöse und gleichzeitig einer Abneigung gegenüber zu extremen Formen der (säkularen) Reduktion. (A Secular Age, 595, meine freie Übersetzung)

Zurück zu irgendeiner Form des christlichen Glaubens wollen wir sicher nicht. Aber auf der anderen Seite sträuben wir uns manchmal davor, das Transzendente (Gott) ganz auszuklammern. Eine rein materialistische Vorstellung des Universums würde bedeuten, dass auch wir nur Materie sind, dass unser Leben aus dem Nichts kommt und wieder im Nichts verschwindet! Wollen wir das wirklich 'akzeptieren'? Und was hiesse das für unsere Beziehungen, Sehnsüchte, unsere Träume, für das, was wir auf dieser Welt an Spuren hinterlassen wollen? Kann man den Menschen in seiner Komplexität so leicht auf biologische Triebe und neurologische Nervenbahnen reduzieren? Irgendwie ist uns nicht so ganz wohl bei diesem Gedanken. Tim Keller meint:

Ein strikter Säkularismus geht davon aus, dass wir Menschen nur materielle Wesen ohne Seele sind und dass geliebte Menschen einfach aufhören zu existieren wenn sie sterben, dass Gefühle von Liebe und Schönheit nur neurologisch-chemische Ereignisse sind ... Diese Positionen sind für fast alle Menschen zumindest zutiefst gegen ihre Intuition, und große Teile der Menschheit werden sie weiterhin einfach als unmöglich verwerfen. (Making Sense of God, 23)

So 'platziert' man sich dann irgendwo zwischen einem ganz geschlossenen immanenten Rahmen (wer zelebriert den Materialismus schon ganz explizit? [3]) und der Möglichkeit, dass es da noch ein höheres Wesen gibt und dass das Menschsein doch mehr ist als nur Partikel und Atome (ist der immanente Rahmen vielleicht nach oben offen?). In anderen Worten, man arrangiert sich irgendwie damit.


Taylor beobachtet hier drei Triggerpunkte (oder cross-pressures), die uns immer wieder mal heimsuchen, indem sie den immanenten Rahmen sprengen und 'nach Oben öffnen':

  • Das materialistische Menschenbild bedingt, dass wir von äusseren (und inneren) natürlichen Prozessen bestimmt werden. Doch, so der intuitive Einwand, erleben wir uns nicht als freie Personen, die ihre eigenen Entscheidungen treffen, Pläne schmieden und Träume verwirklichen?

  • Und was ist mit unseren höheren ethischen Idealen, mit unserer Moral? Lässt sich universale Nächstenliebe - theoretisch das Projekt des Humanismus - mit Bezug auf natürliche Triebe oder biologische Instinkte ausreichend beschreiben? Wieso tönt dieser Satz, den einst jemand gesagt hat, irgendwie so absurd: 'Der Mensch stammt vom Affen ab, darum lasst uns unsere Nächsten lieben'?

  • Wieso berührt uns Kunst? Wie ordnen wir unsere 'ästhetischen Erlebnisse' ein? Wieso verspüren wir in der Natur - auf einer Wanderung in den Bergen oder bei einem Sonnenaufgang am Meer - so etwas wie eine Lust etwas anzubeten, das Verlangen in diese Schönheit einzutauchen und sie zu preisen? Wieso kommen wir bei existenziellen Erlebnissen wie bei eine Geburt fast nicht umhin, von einem Wunder zu sprechen? Wieso gibt es Poesie, Musik?


Welches Menschenbild, welches Weltbild wird der Mannigkfaltigkeit und Schönheit, dem Reichtum und der Komplexität (Charles Taylor verwendet fullness als Oberbegriff dafür) der menschlichen Existenz gerecht?

Hier besteht die Herausforderung für den Nichtgläubigen, ein nicht-theistisches Register zu finden, mit dem er auf [diese komplexe und wunderschöne Realität der Welt und des Menschseins] ohne sie zu reduzieren antworten kann. (Secular Age, S. 607, meine freie Übersetzung)

Der Blick nach Oben

Der säkulare Mensch oszilliert also zwischen einem komplett geschlossenen Rahmen (es gibt keinen Gott und nur Materie) und einem offeneren Rahmen (vielleicht gibt es doch ein höheres Wesen?). Dabei kämpft er immer wieder mit dem Gefühl der Verantwortung, die er als säkularer Mensch zu tragen hat: Er muss versuchen, der Fülle des Lebens gerecht zu werden, ohne zurück ins Transzendent-Religiöse zu kippen - so will es das säkulare Narrativ. Er ist wie Kevin allein zu Hause, nur dass er das Gefühl hat nicht ganz allein zu sein. Ja, manchmal fühlt er sich allein (gelassen). Er verspürt wie das säkulare Leben ihn bedrückt. Er vermisst die Umarmung des Transzendenten.

Manche Menschen verspüren im Alltag eine schreckliche Eintönigkeit, und diese Erfahrung wird insbesondere mit der Handels-, Industrie- oder Konsumgesellschaft in Verbindung gebracht. Sie spüren die Leere des sich wiederholenden, sich beschleunigenden Kreislaufs von Wunsch und Erfüllung in der Konsumkultur, die Kartonqualität heller Supermärkte oder gepflegte Reihenhäuser in einem sauberen Vorort. (Secular Age, S. 309)

Kein Wunder sucht der säkulare Mensch darum nach Abenteuer, nach einem Kick, nach Momenten des Glücks im Hier und Jetzt (lass uns jetzt feiern, denn morgen sind wir tot).


Manchmal geht er in den existenziellen Schwellenmomenten seines Lebens - Hochzeit, Beerdigung - sogar zu den alten religiösen Ritualen (und damit zur Kirche) zurück, die solche Übergänge mit transzendenter Bedeutung versehen. Und er 'besucht' vielleicht seine geliebten Menschen am Grab, obwohl er eigentlich 'weiss', dass seine Lieben nicht länger existent sind (oder doch?).


Er sucht auch nach dritten Wegen (Taylor, S. 302), oder nach Mittelwegen zwischen dem alten Weg des Glaubens und dem strikt säkularen Weg des Materialismus. Diese dritten Wege können sehr wohl spirituell sein. Spiritualität boomt ja innerhalb des immanenten Rahmens. Aber gerade weil diese neuen Formen der Spiritualität selbstgewählt, häufig auch selber zusammengebastelt sind, passen sie ins säkulare Setting: Der Mensch sitzt auch am Ruder seiner spirituellen Reise. Und ganz oft ist es eine Reise mit ganz und gar unterschiedlichen spirituellen Aufenthaltstorten (passend zur Lebensphase) und einem offenen Ausgang. Taylor beschreibt diese Spiritualität darum als fragil. Sies ist es darum, weil sie sich ständig wandelt und multipliziert. Es gibt nicht DEN einen dritten Weg. Es gibt eine ständig sich multiplizierende Vielzahl von dritten Wegen (was Taylor als Nova-Effekt bezeichnet). Hören wir Taylor noch einmal ausführlich zu:

Daraus folgt nicht, dass das einzige Heilmittel für [den gefühlten Druck innerhalb des immanenten Rahmens] eine Rückkehr zur Transzendenz ist. Die Unzufriedenheit, die hier hervorgerufen wird, kann Menschen dazu veranlassen, sich auf die Suche nach einer Beziehung zum Transzendenten zu begeben. Aber diese Unzufriedenheit wird auch von jenen empfunden, die eine solche Rückkehr aus dem einen oder anderen Grund nicht gutheißen können, oder dann nur in Formen, die sehr weit weg von der traditionellen etablierten Religion liegen. Aber auch sie suchen nach Lösungen oder Wegen, den Mangel zu füllen, einfach innerhalb des immanenten Rahmens ... und so vervielfacht sich die Palette neuer Formen immer mehr. (S. 309-310)


Zum Schluss ein Song

Das Leben des Menschen im säkularen Zeitalters lebt mit dieser spannungvollen Frage 'Was, wenn dieses Leben, das ich sehen und anfassen kann, alles ist? Was, wenn es nach dem Tod wirklich aus ist?' Er lebt mit dem intuitiven Gefühl und manchmal sogar einer Hoffnung, dass da noch mehr sein könnte. Und solche existenziellen Dinger giesst man am besten in einen Song, so wie Johannes Falk es mit 'Wer weiss wohin' getan hat:


Was kommt nach dem Sterben? Zerfällt der Körper nur zu Staub?

Ist das ewige Leben nur eine Masche, die man uns verkauft?

Sind wir nicht mehr als Materie? Macht nicht die Seele den Unterschied?

Stehen Verstand und Gewissen nicht pausenlos im Krieg?


Wer weiß, wohin die Reise geht?

Wer kann mir sagen wohin?

Wer weiß, wohin dieses Leben führt?

Wer weiß, was Wahrheit ist?

Was macht den Unterschied?




[1] Taylor greift hier auf Shakespeare zurück, genauer auf die Figur Desdemona in Othello. Desdemona wird von Othello umgebracht, auf den Rat von Iago hin, der ihm die Falsch-information zuspielte, dass Desdemona eine Ehebrecherin sei. Der Punkt, den Taylor hier machen will ist, dass die säkulare Story alle anderen möglichen Stories zum Schweigen bringt. Am Ende hört man nur die Geschichte, die Iago erzählt.

[2] Taylor denkt hier hermeneutisch, mit Heidegger oder Gadamer, dass der Mensch als Interpret seiner Situation oder der Situation der Welt eigentlich nie von 'ausserhalb', also neutral auf sich und die Welt schaut, sondern immer schon als Teil des Ganzen, involviert von 'innerhalb' interpretiert. Anders gesagt, der säkulare Mensch ist immer schon vom säkularen Zeitalter geprägt und betrachtet sein Leben aus dieser Perspektive, meistens ohne dass er sich dessen bewusst ist.

[3] Eine bedeutsame und eloquente Ausnahme finden wir bei Richard Dawkins, der über seinen verstorbenen Freund William Hamilton schrieb, dass dieser den Wunsch äusserte

"... auf dem Waldboden im Amazonas-Dschungel ausgebreitet und von Grabkäfern als Nahrung für ihre Larven beerdigt [zu] werden." (Zitiert in Taylor, S. 606)





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