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  • matt studer

Der Flüchtende und die Familie - Gedanken zur aktuellen Lage

Aktualisiert: 27. März 2022


Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. (Matthäus 25,35)



Dieser Beitrag ist Nazanyn gewidmet, einem Mädchen aus Afghanistan, das nach Europa geflüchtet ist. Möge sie Gottes Segen erfahren und Heimat finden!


Jetzt ist er also da, der Krieg an den 'Grenzen' Europas. Und nun sind sie schon hier, die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine in der Schweiz. Die Direktorin der Schweizerischen Flüchtlingshilfe kalkuliert, dass 10'000 - 20'000 ukrainische Flüchtlinge den 'sicheren' Hafen der Schweiz aufsuchen werden. Niemand hätte damit gerechnet, dass sich eine solch dramatische Situation so plötzlich ereignen würde.


Mich beschäftigt das Thema 'Flüchtlinge' schon seit längerer Zeit. Wir leben in einer Zeit, in der so viele Menschen wie noch nie wegen Krieg, Konflikten und Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben werden. Laut einer Studie von UNHCR waren es Ende 2020 um die 82 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Hinzukommen werden die Klima-Flüchtlinge, Menschen, die aufgrund des Klimawandels ihre Zelte abbrechen und ihn 'fruchtbareres Land' umsiedeln werden müssen.


Vor vier Jahren war ich selbst einmal als Helfer in einem Flüchtlingslager auf Lesbos. Das Lager Moria, das 2020 niederbrannte, diente damals noch als Sammelbecken für über 10'000 Menschen, hauptsächlich aus Afghanistan, Syrien, Irak und dem afrikanischen Kontinent. Eine unglaubliche Ballung von persönlichen Schicksalen, von denen ich einige über einer Tasse Tee erfahren durfte. Ich fühlte mich privilegiert. Nicht weil ich in ein paar Tagen aus dem Dreck wieder in die saubere Schweiz zurückreisen durfte, sondern weil ich persönlich Anteil am Leben dieser Menschen nehmen durfte. Auf der anderen Seite war es aber auch eine schmerzhafte Erfahrung, da ich im Endeffekt so wenig bewirken konnte. Am liebsten hätte ich ein paar dieser so wertvollen Menschen 'nach Hause' mitgenommen. Doch ging das ja nicht.


Aber das alles war noch so weit weg von uns, denn es spielte an einem der äussersten Zipfel Europas, auf einer unbedeutenden griechischen Insel. Die gegenwärtige Situation kommt uns da viel näher, zumindest geografisch. Doch eigentlich egal ob nah oder fern, mich bewegen diese Menschen, die alles zurücklassen und sich in eine noch ungewisse und unsichere Zukunft aufmachen müssen. Ihr Leben wird nie mehr so sein wie zuvor.



Darf ich euch den Genfer Reformator Jean Calvin einmal von einer etwas anderen Seite präsentieren? [1] Die Zeit nach der Reformation, die Zeit der Konfessionskriege (ein leidiges Kapitel der christlichen Geschichte! [2]), war nämlich auch eine Zeit der Flüchtlinge. Zig tausende von Menschen mussten ihre Heimat verlassen, weil sie den 'falschen Glauben' hatten. So auch Calvin, der zunächst als Ketzer aus Paris und dann allgemein aus dem katholischen Frankreich (später auch noch aus Basel) vertrieben wurde, 'wie ein Hund', wie er selbst schrieb. In Genf musste Calvin dann 18 Jahre warten, bis er sich Bürger der Stadt nennen durfte. Calvin's Leben war also zu weiten Teilen das Leben eines Migranten, was ihn sicher für dieses Thema sensibilisierte.


Wieso diese historische Rückblende? Weil diese Story sich so ermutigend fortspann. Genf wurde unter Calvin und seiner 'Flüchtlingspolitik' zu einem wahren Zentrum der Migration. Die Genfer Kirche nahm zahllose Glaubensflüchtlinge auf, eine Praxis, an der sich auch der Reformator selbst beteiligte (man soll ja bekanntlich nie predigen und selber nicht danach handeln!). Calvin setzte sich auch auf politischem Wege dafür ein, dass diesen Flüchtlingen eine tragfähige Existenz für die Zukunft ermöglicht werden konnte. All das natürlich gegen den Widerstand der alteingesessenen 'Konservativen', die (wir können es schon auch nachvollziehen) lieber nicht so viele Fremde in ihrer Stadt gesehen hätten. Viele dieser Migranten blieben in Genf, was der Stadt am Ende wieder zu Gute kam und sogar zu einem wirtschaftlichem Aufschwung führte. Thomas Hennefeld kommt zum Schluss:

Die Stadt Genf, die Calvin mit seiner Lehre, seinem Glauben und seinem Handeln ein Vierteljahrhundert prägte, wurde zu einem Vorbild an Integration von Fremden.


Schweiz, heute, 7. März 2022. Was sollen wir angesichts der gegenwärtigen Situation tun? Ich bin so dankbar für all die Menschen, Kirchen und Organisationen, die so zackig aktive Schritte einleiten und umsetzen! Für all die Menschen, die bereit sind, ihr freies Zimmer zur Verfügung zu stellen. Für all die Hilfsgüter, die gespendet werden. Es braucht aktive Hilfe, Unterstützung, Spenden, usw. Und es braucht Gebet, viel Gebet! Aber was passiert danach, wenn wir etwas weiter vorausdenken und wir uns vielleicht vorstellen, dass diese Menschen nicht so schnell wieder abreisen können?

Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott. (3 Mose 19,34)

Die Kirche Christi steht vor der Aufgabe, Flüchtende und Fremde für vielleicht längere Zeit aufzunehmen und ihnen eine Heimat zu geben. So wie es die Kirche unter Calvin in Genf praktiziert hat. Es ist eine hohe Aufgabe: Nicht 'nur' Hilfsgüter geben oder einen Scheck ausfüllen und die Sache abhaken, sondern aufnehmen, annehmen und lieben. Nächstenliebe ist ein ganzheitliches und radikales Konzept in der Bibel. Ich gebe mich mit meinem ganzen Leben für meinen Nächsten hin, damit dieser aufblühen, leben und hoffen kann. Ich verzichte auf meine eigenen Vorrechte und diene dem anderen, ja sogar dem Fremden in unserer Mitte. Ich komme ihm entgegen, ich tue den ersten Schritt. Das ist die 'Haltung Christi', die uns prägen soll (Phil 2,5):

Er verzichtete auf alle seine Vorrechte und stellte sich auf dieselbe Stufe wie ein Diener. Er wurde einer von uns – ein Mensch wie andere Menschen. (Phil 2,7)

Wie sehr Gott unsere kaputte Welt kennt und sich mit ihr eins macht! Der Sohn Gottes kam in der Fremde auf die Welt, in einem Stall, weil es nirgendwo sonst einen Platz gab. Und anstatt dass seine Eltern nach fünf Tagen komfortablem Wochenbett 'nach Hause' gehen konnten, mussten sie ausser Landes nach Ägypten fliehen (Mt 2,13). Es blieb keine Zeit für Babyshower und Geburtskarte. Als Jesus als Erwachsener seinen Dienst antrat, hatte er keine feste Bleibe: 'Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.' (Mt 8,20) Zuletzt wurde er als Ausgestossener 'ausserhalb der Stadt' ans Kreuz genagelt. (Hebräer 13,12)

Jesus war Flüchtling, Fremder und Vertriebener zugleich!


Und wir? Der Hebräerbrief sagt uns, dass auch wir 'vor das Lager - aus der Stadt heraus' gehen sollen, um uns mit Jesus eins zu machen (Heb 13,13). 'Ausserhalb der Stadt' heisst in diesem Kontext, dass man nicht dazu gehört, nicht 'zur Stadt gehört', dass man fremd ist. Wie ist das zu verstehen? Es heisst nicht, dass wir keine Zürcher oder Basler, Berliner oder Wiener sein sollen, wenn wir es denn sind! Doch bedeutet es, dass auch wir, wenn wir zu diesem Jesus gehören, auf einer Art und Weise fremd in dieser jetzigen Welt sind: 'Denn hier auf der Erde gibt es keinen Ort, der wirklich unsere Heimat wäre und wo wir für immer bleiben könnten. Unsere ganze Sehnsucht gilt jener zukünftigen Stadt, zu der wir unterwegs sind.' (Hebräer 13,14) Auf einer tieferen Ebene als unser Schweizer-oder was-auch-immer-Pass es biometrisch anzeigt, sind wir als Christen 'Bürger des Himmels'. Wir gehören doch zu Gottes Haus, zu seiner Familie. (Eph 2,19) Und wie Abraham sehnen wir uns nach der himmlischen Stadt (Heb 13,16), die am Ende der Zeit aus dem Himmel herabkommen wird. Eine Stadt, in der es keine Flüchtlinge, Vertriebene und Fremde mehr geben wird und in der alle Kriege und alles Kapputte der Vergangenheit angehören werden? (Lies Offb 21) Wir sehnen uns nach unserem ewigen Zuhause bei Gott.


Vielleicht hilft uns gerade diese christliche Sehnsucht nach unserer wahren Heimat, den Geflohenen beizustehen. Vielleicht befähigt sie uns dazu, denen Weggefährten zu sein, die, ihrer irdischen Heimat entrissen, zu Fremden werden müssen. Ja, vielleicht können wir, die wir selbst 'Fremde' sind, solchen Menschen eine 'Heimat' bei uns geben. Dies war jedenfalls die Logik Gottes und der Grund, warum sein Volk im Alten Testament die Fremden unter sich lieben sollte: 'Denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.' (3 Mose 19,34b)


Die Kirche ist die Familie Gottes, jetzt schon. Und sie kann Familie für andere werden, gerade für die, die keine Familie und kein Zuhause mehr haben. Dann, am Ende, wird sie eine multi-multikulturelle Familie sein. Und Jesus, der für uns zu einem Flüchtling wurde, damit er uns eine Heimat bei seinem Vater schenken kann, wird im Mittelpunkt seiner grossen Familie stehen. Wie sehr ich mich auf diesen Moment freue!

Jetzt sah ich eine riesige Menschenmenge, so groß, dass niemand sie zählen konnte. Die Menschen kamen aus allen Nationen, Stämmen und Völkern; alle Sprachen der Welt waren zu hören. Sie standen vor dem Thron und vor dem Lamm. (Offenbarung 7,9)


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[1] Leider gibt es zu viele Karikaturen über Calvin, doch ist das jetzt nicht das Thema hier.


[2] Ein wirklich leidiges Kapitel. Doch sollte man bedenken, dass es hier vor allem um Territorial-Politik ging. Und wenn der Regent katholisch oder protestantisch war, dann musste sein Volk dies halt auch sein (jedenfalls öffentlich). Ein Hoch auf Religionsfreiheit.


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